Gemächlich lassen sich die Seehunde bäuchlings am Panoramafenster vorbeitreiben. Ihr Publikum auf der anderen Seite sehen sie nicht. Dort, wo in der Saison ganze Schulklassen und Busladungen voller Touristen staunend in die Unterwasserwelt der Seehund-Aufzuchtstation Norddeich eintauchen, sind nur vereinzelt Besucher anzutreffen. Es ist Winterzeit – Zeit für Leiter Peter Lienau und sein Team, Bilanz zu ziehen. 199 Heuler haben sie im vergangenen Jahr vor dem sicheren Tod im Wattenmeer gerettet. „Das sind 86 Tiere mehr als im Vorjahr – ein trauriger Rekord“, sagt Lienau.
Heuler, so nennen sie hier an der Küste die verwaisten Jungtiere, die an den Stränden, an den Deichen oder auch auf den Sandbänken einsam zurückgelassen werden. Heuler, weil die Laute, die die mutterlosen Seehundbabys von sich geben, jedes Herz erweichen. Dazu diese dunklen Knopfaugen, das lässt niemanden kalt. Dabei sind Seehundmütter keineswegs Rabenmütter, weiß Lienau. „Es müssen schon mehrere Störfaktoren zusammenkommen.“

Peter Lienau leitet die Seehundstation und das Nationalpark-Haus in Norddeich.
Störfaktoren, das sind im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer vor allem Menschen: Spaziergänger, die die Ruhezone I betreten, Kiter, die zu nah an der Sandbank vorbeifahren, oder unkundige Seekajakfahrer. „Meist sind es Urlauber, die die Unruhe mitbringen“, erklärt Lienau – und wird nicht müde, von seinen pelzigen Schützlingen zu erzählen. Er warnt: „Nicht anfassen!“ Zum einen seien Seehunde Wildtiere, die gefährlich werden könnten, zum anderen werde der Nachwuchs verstoßen, wenn Menschen auch nur in die Nähe kämen.
Der „traurige Rekord“ steht für Lienau in einem direkten Zusammenhang mit den Rekordzahlen im Nordsee-Tourismus. So wurden während der Pandemie nur 133 (2020) beziehungsweise 113 Heuler (2021) zum Aufpäppeln in die Seehund-Aufzuchtstation gebracht. Die Lockdowns, so Lienau, hätten dazu geführt, dass deutlich weniger Gäste an die Küste kamen, es also kaum Störfaktoren während der Geburten- und Aufzuchtphase der Seehunde gab. Zum Vergleich: Im Vorpandemiejahr 2019 retteten die Tierpfleger 183 Heuler.

Im Schnitt zwei Monate lang werden die verwaisten Jungtiere in Norddeich wieder aufgepäppelt.
Die Attraktivität der Nordsee als Urlaubsdestination spiegelt sich auch in den Besucherzahlen der Seehund-Aufzuchtstation wider: Kamen 2019 noch 288.000 Gäste, waren es 2020 nur 120.000 und 2021 rund 150.000. Im vergangenen Jahr besuchten 210.000 Menschen die Station. Das ist zunächst einmal gut für die Einrichtung, die sich zu 82 Prozent aus Eintrittsgeldern finanziert, doch die Belastbarkeit der Mitarbeiter gerät bei so hohen Zahlen an ihre Grenzen.
Abstand halten
Anders als Einheimische und Stammgäste würden sich diejenigen, die das Wattenmeer erst während der Pandemie als Ferienregion entdeckt hätten, aus Unkenntnis oft falsch verhalten, so Lienau. Er betont: „Nicht jede Seehundsichtung ist einen Alarm wert.“ Meist seien die Muttertiere einfach nur im Meer jagen und kämen bald zurück, um die Jungtiere zu versorgen. Deshalb sei es so wichtig, Abstand zu halten – und die Situation erst einmal von fern zu beobachten.
Die Zahl der Fehlalarme ist hoch. Gleichwohl gehen die Tierretter jedem Anruf nach. „Wir haben ein großes Netz von Freiwilligen zwischen Ems und Elbe“, sagt der Stationsleiter nicht ohne Stolz. 120 Ehrenamtliche sind es, davon 70 Aktive. Sie bewerten die Situation vor Ort und informieren die Hauptamtlichen in Norddeich – auch wenn es gar keinen Handlungsbedarf gibt. „Wenn dann weitere Anrufe zur selben Sichtung eingehen, können wir gleich Entwarnung geben“, erklärt Lienau.

So sieht es aus, wenn die jungen Seehunde wieder in die Freiheit entlassen werden – hier an der Ostspitze der Insel Juist.
Während der Saison schwankt die Zahl der Heuler in der Station stark. 34 festangestellte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie bis zu zehn junge Menschen im Freiwilligendienst kümmern sich um die entkräfteten Jungtiere. Diese kommen zunächst einmal in Quarantäne, bevor sie ins 500 Quadratmeter große Meerwasserbecken dürfen. Um immer genug Frischwasser zu haben, ist die Station über eine Pipeline mit dem Wattenmeer verbunden. Diese hat einen eigenen Durchlass im Seedeich und versorgt auch das benachbarte Wellenbad mit Nordseewasser.
Der Höhepunkt eines jeden Besuches in der Aufzuchtstation ist die Fütterung. Pro Mahlzeit verschlingt ein Heuler etwa ein Kilogramm Fisch. Bei zwei Mahlzeiten am Tag für 25 Tiere kommen da schnell mal 50 Kilogramm zusammen. Die Kleinen bekommen vor allem Hering, den die Station vom Großhandel in Bremerhaven bezieht. Der bevorstehende Beginn der Fütterung spricht sich bei den Möwen auf dem Dach noch schneller herum als bei den Besuchern der Ausstellung. Die Vögel lauern auf Beute und sind ein echtes Problem für das Team am Beckenrand. Vergrämung ist kaum möglich.
Wer glaubt, die Seehund-Aufzuchtstation sei außerhalb der Saison verwaist, der irrt. Aktuell befinden sich laut Leiter Lienau 20 Seehunde und fünf Kegelrobben in Norddeich. Die meisten von ihnen sind von Parasiten befallen und bekommen eine Wurmkur. Sie bleiben etwa vier Wochen, bis sie wieder fit sind, und werden dann wieder ausgewildert.
Die aktuellen Krankheitsfälle sind anders als die Seehundstaupe vor einigen Jahren keine Gefahr für den Bestand der Tiere, die so gelassen dahingleiten. Am Panoramafenster haben sich dann doch einige Besucher eingefunden. Sichtlich saugen sie die Ruhe der Meeressäuger in sich auf.