Eine Frau ist mit einem selbst geschriebenen Brief an den Zeugenstand gekommen, drei Seiten lang. Orianne (Name geändert) liest ihn mit fester Stimme vor. Sie war 13 Jahre alt, als sie im August 2002 in einem Krankenhaus der Stadt Vannes in der Bretagne unter Vollnarkose am Zeh operiert wurde. Seitdem ist nichts mehr wie vorher, wie sie schildert. „Nach und nach tauche ich in unerklärliches tiefes Leiden ein. Ich hasse mich, ich hasse diesen Körper, in dem ich lebe.“ Ihre Noten fallen ab, sie bricht mit ihren Eltern und Freunden, wird magersüchtig und schwer depressiv. „Ich nehme 14 Medikamente am Tag, um zu versuchen, zu überleben.“ Beim ersten Sex mit ihrem Freund erbricht sie sich, verliert das Bewusstsein. Er wirft ihr vor, ihm verschwiegen zu haben, dass sie keine Jungfrau mehr ist. „Ich kann mich nicht im Spiegel ansehen, ich vermeide jede Nähe mit anderen“, liest Orianne.
Jahre später erlebt sie es wie eine Befreiung, als sie durch einen Polizisten erfährt, dass sie damals im Krankenhaus vom Chirurgen Joël Le Scouarnec sexuell missbraucht wurde. „Ich weiß jetzt, dass ich nicht verrückt bin.“ Man zeigt ihr die Passage seiner Tagebücher, in der er beschrieb, wie er sie mit den Fingern vergewaltigte. Sie habe keinerlei Erinnerung, aber erkenne sein Gesicht wieder, so Orianne: „Es ist jenes meiner Albträume seit 15 Jahren.“
Hunderte minderjährige Opfer
Hunderte überwiegend minderjährige Patientinnen und Patienten hat der heute 74-Jährige über Jahrzehnte hinweg in verschiedenen Krankenhäusern im Westen Frankreichs sexuell genötigt und vergewaltigt. Er vertuschte seine Taten, dokumentierte sie allerdings detailliert, mit Namen, Alter und Adressen der Opfer, in seinen Tagebüchern.
Wehrlose, kranke Kinder machte der Mediziner skrupellos zu Objekten seiner Sex-Fantasien. 2017 flog er auf, als ihn zunächst eine sechsjährige Nachbarin, dann zwei seiner Nichten und eine vierjährige Patientin wegen sexueller Übergriffe beschuldigten. In einem ersten Prozess 2020 wurde Le Scouarnec zu 15 Jahren Haft verurteilt. Damals fanden die Ermittler seine Schriften, die das Ausmaß seines Treibens offenlegten.
Taten vor 1989 sind verjährt
Beim derzeit laufenden Prozess in Vannes geht es um 299 Opfer, die er zwischen 1989 und 2014 angegriffen hat. Weiter zurückliegende Fälle sind verjährt. Nachdem der Spezialist für Darmerkrankungen bei den Verhören seine Taten zunächst herunterspielte, zeigt er sich nun reumütig und geständig. Er wolle „jeder und jedem Einzelnen Rede und Antwort stehen“, verstehe jetzt die Schwere seiner Handlungen, die er einst als „flüchtig“ wahrnahm.
Die wenigsten glauben ihm, auch weil seine Tagebucheinträge allzu obszön sind. Der Ex-Chirurg sei „ein Manipulator, der Freude dabei empfindet, seinen Opfern zuzuhören“, sagte eines von ihnen vor Gericht. Vier Monate soll Frankreichs bisher größter Kinderschänder-Prozess dauern, der bereits Ende Februar begonnen hat.
Betroffene ohne konkrete Erinnerung
Die wenigsten Betroffenen haben eine konkrete Erinnerung, weil sie zur Tatzeit im OP-Saal lagen oder unter der Wirkung der Narkose in ihrem Krankenbett. Viele plagten sich in der Folge wie Orianne mit schweren psychischen Problemen, ohne deren Ursache zu finden. Für alle war es ein Schock, ins Kommissariat bestellt zu werden und zu erfahren, was Le Scouarnec mit ihnen gemacht hat. Als Polizist habe er mit Opfern von Gewalttaten zu tun, sagt ein 38-Jähriger. „Wechselt man die Seite, ist alles anders.“ Als Reaktion habe er das getan, wovon er Geschädigten immer abrät: Er zog sich in sich zurück, verdrängte sein Trauma, trieb exzessiv Sport.
Alle Zivilkläger, die als Zeugen vorgeladen werden, fragt die Vorsitzende Richterin Aude Buresi, was sie sich vom Prozess erwarten. „Ich fühle mich immer noch als Gefangene seiner Gedanken, Fantasien, Texte“, antwortet eine 42-Jährige. „Davon will ich mich befreien.“ Orianne sagt, sie leide weiterhin an Angststörungen, aber lerne, sich selbst zu lieben. Le Scouarnec solle sehen, was er angerichtet hat. „Er hat mich nicht nur vergewaltigt, er hat meine Jugend zerstört, meine Erinnerung gestohlen und meine Würde beschmutzt.“ Dem Ex-Mediziner droht die Höchststrafe von 20 Jahren.