Die Szene ereignete sich am Dienstagmorgen in einer ruhigen Straße im 11. Pariser Arrondissement. Ein Anwohner, durch laute Schreie ans Fenster gelockt, filmte sie: Drei Vermummte schleifen eine Schwangere über den Gehweg, um sie zu einem Van zu zerren. Sie leistet Widerstand, ruft laut um Hilfe, ein Mann hält sie fest. Der Frau gelingt es, eine Pistole auf die Straße zu werfen, die sich später als Attrappe herausstellt. Passanten eilen herbei, schließlich bedroht ein Nachbar die Angreifer mit einem Feuerlöscher. Diese springen unverrichteter Dinge in den Van, der davonbraust.
Der Mann, der die Frau beschützt hatte, war ihr Lebenspartner und ist am Kopf verletzt. Wie der kleine Junge des Paares, der die Szene mit ansehen musste, wurde er in der Folge medizinisch versorgt. Den Kleinlaster fand die Polizei später in der Nähe, von den Tätern fehlt jede Spur.
Vater tritt im Fernsehen auf
Bei der Frau handelte es sich wohl nicht um ein Zufallsopfer: Sie ist die Tochter von Pierre Noizat, dem Chef von Paymium, einer Plattform für den Handel mit Kryptowährungen. Noizat trat am Freitag im Fernsehen auf, wo er den Mut seiner Tochter und seines „heroischen“ Schwiegersohns lobte. Er habe gewusst, dass es „ein gewisses Risiko“ gab, dennoch standen er und seine Familie nicht unter Polizeischutz. Unmittelbar nach seinem Fernsehinterview hatte Noizat einen Termin bei Innenminister Bruno Retailleau. Doch davon erhoffe er sich wenig, habe dieser doch „eine unmögliche Mission“ vor sich: „Das Problem wächst schneller, als er es beheben kann.“
Tatsächlich handelte es sich um den fünften Angriff auf Bitcoin-Unternehmer oder deren Angehörige in knapp zwei Jahren. Anfang Mai wurde der Vater eines Kryptomillionärs vor Augenzeugen in Paris entführt, die Täter forderten mehrere Millionen Euro Lösegeld. Dann gelang es der Polizei, das Opfer zu befreien. Seine Entführer hatten ihm einen Finger abgehackt. Fünf Männer wurden festgenommen. Offenbar hatte die Familie zuvor Drohungen erhalten.
Ende Januar sorgte die Entführung von David Balland, dem Mitbegründer des Kryptounternehmers Ledger, und seiner Lebensgefährtin für Aufsehen. Sein Geschäftspartner Eric Larchevêque erhielt damals ein Video von Ballands abgetrenntem Finger mitsamt der Lösegeldforderung: rund zehn Millionen Euro in Form von Bitcoins. Auch Balland konnte befreit werden, seine Freundin wurde am Folgetag gefesselt in einem Kofferraum entdeckt. Sieben Tatverdächtige kamen in Haft.
„Diese Kriminellen haben keine Grenzen mehr"
Anfang Januar wurde ein Ehepaar entführt, nachdem dessen Sohn, ein Influencer im Kryptobereich, in Videos mit seinen hohen Gewinnen geprahlt hatte. Unternehmer Larchevêque klagte nun über den „Laxismus der Justiz“, die die steigende Bedrohung für die ganze Branche bedinge: „Diese Kriminellen haben keine Grenzen mehr, weder Moral noch Angst, auch nicht vor lebenslanger Haft.“ Seitens der Polizeieinheit für Cybersicherheit heißt es, die Verbrecher glaubten an das Versprechen vom „schnellen Geld“ gegenüber klassischen Geldübergaben, die stets ein Risiko für sie bergen.
Tatsächlich handle es sich um ein falsches Kalkül, sagt die in dem Bereich spezialisierte Anwältin Sarah Compani. Denn die Kryptowährungen basierten auf einer Technologie, die wie ein großes, offenes und nachvollziehbares Register funktioniere. „Man muss sich sehr gut auskennen, um Transaktionen unkenntlich zu machen.“ So konnten die Entführer des Vaters des Influencers Killian Desnos, die für dessen Freilassung 1,7 Millionen Euro erhalten hatten, ausfindig gemacht werden. Sie hatten versucht, auf einer Plattform mit einem Teil des Geldes zu bezahlen.