Winfried Ziemann hat sich 1971 ordentlich geärgert. Der Buxtehuder Buchhändler und kulturelle Tausendsassa ist linksorientiert und lebt in einer Welt, in der Willy Brandt regiert, Erich Honecker die Macht übernimmt, die RAF das Land terrorisiert, Richard Nixon an den Folgen des Vietnamkrieges herumlaboriert und Großbritannien überlegt, in die spätere EU einzutreten. Ziemann ärgert sich, dass der Deutsche Jugendbuchpreis ausschließlich von Erwachsenen bestimmt wird und in seiner Buchhandlung Eltern entscheiden, was ihre Kinder zu lesen haben. Also macht er sich ans Werk, das zu ändern.
Für seine Idee, Jugendliche bei einem Preis mitentscheiden zu lassen, und dann auch noch gleichberechtigt, wird er müde belächelt. "Abwegiger, revolutionärer Spinnkram", ruft der Buxtehuder Bürgermeister aus. Schließlich ist es noch 20 Jahre hin, dass Deutschland die UN-Kinderrechtskonvention unterschreiben wird. Dass eine 16-jährige Klimaaktivistin vor der UN-Vollversammlung spricht und weltweit Gehör bekommt, ist 1971 undenkbar.
Also nimmt Ziemann das Heft in die Hand und organisiert auf eigene Kosten. Gegen alle Widerstände – und an diesem Donnerstag, 11. November 2021, verleiht die Stadt Buxtehude zum 50. Mal den Jugendbuchpreis Buxtehuder Bulle. Die Bücher von Autoren wie Michael Ende, Gudrun Pausewang, Stephenie Meyer, Jostein Gaarder, John Boyne, Hermann Vinke und auch dem Bremer David Safier werden in der Regel hinterher Bestseller. Das Auswahlverfahren ist schon lange nichts Ungewöhnliches mehr, Kinder dürfen sich im Geschäft ihre Bücher selbst aussuchen, und es gibt statt zwei inzwischen etwa 60 Jugendbuchpreise in Deutschland. Ebenso wie es heute etwa 300 Jugendbuchtitel im Jahr gibt, 1971 waren es 40.

Buchhändler Winfried Ziemann mit der Skulptur des "Buxtehuder Bullen".
Der Preis 2021 geht an Alan Gratz für sein Buch "Vor uns das Meer", in dem er die Geschichten und Schicksale dreier Kinder aus unterschiedlichen Zeiten verwebt: Der elfjährige Josef ist 1939 auf der Flucht vor den Nazis, Isabel 1994 auf der Flucht vor Fidel Castro. Der zwölfjährige Mahmoud ist 2015 auf dem Weg aus dem zerstörten Aleppo nach Deutschland.
In der Verlagswelt genießt der Bulle von Anfang an einen sehr guten Ruf. Renate Herre, Verlegerin des Carlsen-Verlags, sagte dem "Buxtehuder Tageblatt": „Für unsere Autoren, die das Glück hatten, mit dem Bullen ausgezeichnet zu werden, war und ist es von besonderer Bedeutung, dass die Stimmen der Jugendlichen maßgeblich mitentscheiden.“ Der Bulle sei nicht nur ein Preis von und für Leser, sondern ein Indikator für den erfolgreichen Weg, den ein Titel nehmen kann. Der Carlsen-Verlag ist einer der führenden Jugendbuchverlage in Deutschland. Mit fünf Titeln stellt er die zweitmeisten Sieger in der Bullen-Geschichte. Nur Ravensburger hat mit sieben Titeln mehr Bullen-Gewinner im Katalog, die meisten aus den Siebziger- und Achtzigerjahren.
Mitreise-Angebot
Dabei fing alles 1971 recht schwierig an. Die Jury entschied sich für den Roman "Die grüne Wolke" von A.S. Neill, dem Gründer der weltweit ersten Pädagogischen Schule in Summerhill, England. Doch Neill war bereits 79 Jahre alt, reiseunfähig und konnte nicht nach Buxtehude kommen. Da passte es, dass die Radionachrichten von der Bullenentscheidung und dem Problem der Preisübergabe berichteten. Schon bald klingelte das Telefon bei Ziemann: "Guten Tag, Muff hier. Ich bin der Deutschland-Repräsentant der Stena-Linie in Bremen und habe von Ihrem Problem gehört." Stena betrieb die Fähren von Hamburg und Cuxhaven nach Harwich in England. Er lud die Gesellschaft ein, kostenlos mitzureisen. Und meinte: "Und das mit dem Bullen kriegen wir auch hin, wir haben schon einmal Reitpferde nach England gebracht."
Als Ziemann ihm sagte, dass es sich beim Buxtehuder Bullen nicht um ein Tier, sondern eine 23-pfündige Stahlplastik handele, sei Muff erleichtert gewesen. Und für A. S. Neill blieb am Ende nur zu sagen: "Ich habe drei Ehrendoktorhüte bekommen und Millionenauflagen mit meinen pädagogischen Büchern gemacht, aber das alles ist mir weniger wert als dieser Jugendbuchpreis, bei dem ich von jungen Menschen gewählt worden bin."