Herr Abdollahi, Ihr neues Buch heißt „Es ist unser Land“, ich habe es als ultimativen Weckruf gegen einen Rechtsruck in Deutschland gelesen. Sie haben das Buch in einem atemlosen, besorgten Tonfall geschrieben. Warum?
Michel Abdollahi: Ich denke, dass wir kurz davor sind, dass das System von Rechten übernommen wird. Deswegen muss man derart heftig appellieren, denn noch gibt es die Möglichkeiten, dagegen vorzugehen und die Demokratie in unserem Land zu retten. Bis zur nächsten Wahl hält das aber nicht mehr.
Meinen Sie, bis zur nächsten Bundestagswahl 2029 oder bis zu einer der nächsten Landtagswahlen?
Tatsächlich schauen wir immer nur auf die Bundestagswahl, weil dies uns das Gefühl vermittelt, es betrifft uns alle. Aber ich als Hamburger bin auch betroffen von unserem Umland. Auch in Mecklenburg-Vorpommern stehen nächstes Jahr Wahlen an. Wir haben immer gehofft, dass alle anderen Parteien es schaffen, das Erstarken der Rechtsradikalen zu verhindern. Wenn die AfD aber irgendwann die absolute Mehrheit in einem Bundesland holt, dann kann sie nicht nur dort, sondern auch mittels Bundesrat Einfluss auf unser Leben nehmen. Da muss sich jeder fragen: Möchte ich, dass gesichert Rechtsextreme bestimmen, was ich darf oder nicht darf?
Sie schreiben seit Jahren über dieses Thema, Sie drehen Reportagen, sind vor Ort, sprechen mit den Menschen. Welche Erkenntnisse haben Sie daraus gewonnen?
Die Mehrheit der Menschen will ihre Ruhe. Revolutionen scheitern häufig nicht am Gegner, sondern an der Müdigkeit der Zuschauer. Erst wenn die Menschen in ihrem unmittelbaren Alltag spüren, da geht etwas nicht mehr, weil plötzlich nicht mehr liberale und demokratische Positionen den Diskurs bestimmen, sondern extremistische, wachen sie auf. Aber dann ist es zu spät. Wenn Rechtsextreme gewählt sind, dann bekommt man sie nicht einfach so wieder weg. Viele Menschen haben sich zwischen einer gefährlichen Gelassenheit, dieser Müdigkeit und so einer Art „Ich weiß sowieso nicht, was ich tun soll“-Haltung eingerichtet.
Sind viele nicht auch überfordert von der Weltlage? Ukraine, Gaza, Serbien – die Liste ließe sich fortsetzen. Die Gefahr ist doch, dass viele sich nicht ständig mit allen möglichen Krisen befassen wollen und einfach wegschauen, oder?
Das ist das Interessante: Die Leute wissen, dass sie davon überfordert sind. Und die Rechten finden genau darin ihren Moment, wenn der Demokrat den Kopf in den Sand steckt. Wir haben andererseits an den großen Demonstrationen gegen rechts Anfang 2024 sehr genau gesehen, was passieren kann, wenn die Zivilgesellschaft sagt: „Stopp, hier ist eine Grenze überschritten. Es gibt aber auch Grenzen, die eher unsexy sind und die ständig überschritten werden.
Welche sind das?
Ich war gerade wieder in Mecklenburg-Vorpommern unterwegs, um den zweiten Teil meiner Dokumentation „Im Nazidorf“ (2021 lebte Michel Abdollahi einen Monat lang in dem „Neonazi-Dorf“ Jamel, Anm. d. Red.) zu drehen. In Jamel haben Rechtsradikale angefangen, sich in der freiwilligen Flüchtlingshilfe zu engagieren. Die Flüchtlinge bekommen dann Tipps wie „Da können wir Ihnen nicht helfen“. Von der Hochschule Neubrandenburg habe ich erfahren, dass sich dort viele Rechtsradikale einschreiben, um Soziale Arbeit zu studieren. Und wenn man das weiterdenkt, dass dort 40 oder 50 Prozent der Bevölkerung rechtes Gedankengut unterstützen, dann ist das auch bei denen der Fall, die dort beispielsweise Grundschullehrer werden. Eine Mutter hat mir erzählt, dass ein Lehrer vor Achtjährigen einen Vortrag darüber gehalten hat, dass die AfD doch eine ganz normale Partei sei. Das ist doch nicht das Deutschland, das wir haben wollen.
Warum tun sich die demokratischen Parteien und Kräfte so schwer damit, die Wähler der AfD zu verstehen?
Bei meiner Arbeit an dem Buch ist mir klar geworden, wie wenig wir den Konsens suchen. Wir haben das gemeinsame Gespräch verloren. Ich habe inzwischen gelernt, dass ich eine andere Position, auch wenn sie mir überhaupt nicht gefällt, erst einmal hinnehmen muss. Was aber landläufig passiert: Menschen werden schnell abgestempelt, wenn sie nicht so denken wie man selbst. Aber viele von denen, die die AfD wählen, sind keine Nazis. Die stehen eher ahnungslos im Wald und suchen nach Orientierung. Es gab ein hohes Tempo an gesellschaftlichem Wandel in den vergangenen Jahren, da sind viele nicht mitgekommen.
Sie meinen: Die städtische, akademisch geprägte und privilegierte Szene hat ihre Lebens- und Denkweise zu absolut gesetzt …
… und hat so über die Jahre den Kontakt zu denjenigen verloren, die es in diesem Land auch gibt. Das sind die vielen einfachen Menschen, die sich in ihrem Alltag nicht damit beschäftigen, ob sie ein vegan belegtes Brötchen essen oder ob es im Café eine genderneutrale Toilette gibt. Oder ob das Kind lieber im Montessori- oder im Waldkindergarten angemeldet werden sollte. Diese Fragen stellt sich der Landwirt in Bayern nicht. Und auch nicht die Jugendlichen in Ostdeutschland; die fragen sich, warum es in ihrem Ort kein Freizeitangebot für sie gibt. Die haben das Gefühl, niemand kümmert sich um sie, das müssen wir dringend wahrnehmen.
Aber sind die Entwicklungen der vergangenen Jahre mit mehr Toleranz für andere Lebensweisen nicht grundsätzlich positiv?
Na klar! Aber wir haben dieses Land mit zu großem Eifer verändert; das war für viele Menschen mindestens einen Tick zu schnell und oft zu dogmatisch vermittelt. Diesen Fehler müssen wir öffentlich eingestehen. Das würde schon viel helfen.
Sie haben das in Ihrem Buch klar formuliert, wenn Sie schreiben „Deutschland ist nicht nur Regenbogen, sondern auch“. Haben Sie nicht Angst, dafür selbst als rechts oder mindestens queerfeindlich beschimpft zu werden?
Das könnte passieren. Aber eigentlich hat sich das Kommunikationsklima vor allem durch Social Media so verändert, dass man sowieso immer nur das Falsche sagen kann. Schlimmer finde ich es, nichts zu sagen, dann verlieren wir noch mehr Leute. Von daher stehe ich zu diesem Satz, weil ich in Gesprächen gemerkt habe, dass viele dieser Menschen, die ich als orientierungslos bezeichnen würde, gar nicht so abgeneigt sind gegenüber Veränderungen in der Gesellschaft. Aber diese Art des Diktierens, was Leute jetzt sofort sein oder tun müssen, das stößt sie ab. Wenn man davon sprechen würde, ihr könnt oder ihr sollt, bewirkt das vielleicht mehr. Und dann muss man zuhören, warum Leute sich damit trotzdem unwohl fühlen – und kann mit ihnen darüber reden. Ein Gefühl kann man nicht einfach so abtun, das funktioniert nicht.
Einen breiten Raum in Ihrem Buch widmen Sie der Rolle des Populismus, Sie sprechen von dem „Gift, das schmeckt“. Populismus benutzt Gefühle, um Ressentiments zu schüren, und ist deshalb das Mittel der Wahl für Parteien wie die AfD, oder?
Er spricht vielen Menschen aus der Seele, die wütend sind. Ich lebe in Hamburg, das ist eine Metropole, hier passiert ständig irgendetwas. Als ich kürzlich durch Grevesmühlen lief, habe ich gedacht: „Hier war vor zehn Jahren schon wenig, jetzt ist hier noch weniger.“ Und wenn ich mich in die Leute hineinversetze, die dort leben, kann ich verstehen, dass sie populistischen Parolen auf den Leim gehen à la „Ich zahle Steuern, ich will auch mein Stück vom Kuchen“. Den Leuten ist es dann egal, ob die AfD gesichert rechtsextrem ist, ob die vom Verfassungsschutz beobachtet wird, sich in Widersprüche verwickelt oder in Skandale verstrickt ist. Die sind frustriert.
Wie kann man aus diesen Mustern herausfinden?
Wir haben zwei Diskussionen in Deutschland. Die eine ist die Sonntagabend-Talkshow-Debatte, in der über die Weltlage aufgeklärt wird. Das sind Themen, die sind so abstrakt, die können wir in unserer kleinen eigenen Welt nicht fassen, sind aber trotzdem wichtig. Die zweite ist die kleinere Debatte, und die dreht sich um Kommunalpolitik. Und da müssen Politiker viel präsenter sein – die müssen da hinfahren. Die Neonazis in Jamel haben inzwischen den verwaisten Imbiss im Ort übernommen und eine Hüpfburg-Vermietung gegründet. Das heißt: Immer wenn irgendwo ein Fest ist, stellt der eine Nazi die Hüpfburg auf, der andere kommt mit dem Cateringwagen. Da frage ich mich: Warum machen die demokratischen Parteien das nicht? Wir müssen dorthin gehen, wo die Probleme sind, und anpacken. Das ist eine mühselige Kleinstarbeit und darf auf keinen Fall mit parteipolitischen Phrasen passieren, sondern damit, dass man verspricht, sich um die fehlende Straßenlaterne zu kümmern. Das ist übrigens auch kein ostdeutsches Problem, das finden Sie auch im Westen.
Sie stammen aus dem Iran, leben seit Ihrem fünften Lebensjahr in Deutschland. Trotzdem sagen Sie „Dieses Land will meine Leistung, aber nicht mich“. Das klingt auch frustriert – wie viel Optimismus haben Sie noch übrig?
Ich habe zwei Frustrationsschwellen. Die eine ist die öffentliche: Viele Menschen schreiben mir und nutzen mich als Verstärker für ihre Anliegen. Das andere bin ich selber, ich bin privilegiert, ich könnte jederzeit woanders hingehen. Ich möchte Deutschland aber nicht aufgeben. Deutschland ist für mich eine starke Gesellschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg Unglaubliches geleistet hat, auch mit einer sehr gelungenen Integration von Millionen Menschen aus anderen Ländern. Wir haben das gewuppt, das zeigen wir nicht oft genug. Ich möchte das aber zeigen. Wir müssen in diesem Land jetzt noch diese Extrameile gehen, damit wir die Gleichheit der Menschen, die im Grundgesetz verankert ist, herstellen. Dieses Ziel ist in Gefahr. Und ich schwanke zwischen einer extremen Lustlosigkeit und einem unbändigen Feuer, dagegen anzugehen, sage mir aber schließlich immer: Komm, Michel, kämpf jetzt weiter.