Ob kleine Kinder aus Bauklötzen Türme errichten, Jugendliche Sportarten wie Fußball betreiben oder Erwachsene sich Freizeitvergnügen wie Skat oder Poker widmen: Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie einen Teil ihrer Zeit spielerisch verbringen. "Kinder haben eine angeborene Freude am Spiel. Spielen ist die kindliche Art zu lernen", erklärt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Egal, wo in der Welt sie leben und welcher Bevölkerungsgruppe sie angehören – etwa 25 bis 30 Prozent ihrer Zeit verbringen Kinder unterschiedlichen Studien zufolge mit Spielen.
Von den im Tierreich zu beobachtenden spielerischen Verhaltensweisen unterscheiden sich die von Menschen entwickelten Spiele dadurch, dass sie auf Regeln beruhen. Lässt man die Tatsache der Regeln beiseite, weisen die Spiele der Menschen große Unterschiede auf. Ein wesentlicher besteht darin, dass bei ihnen entweder wie beispielsweise beim gemeinsamen Sandburgenbauen die Zusammenarbeit oder aber wie beim Verstecken, Fangen oder bei Brettspielen wie Schach der Wettbewerb im Vordergrund steht. Wissenschaftler nutzen für beide Gruppen Fachbegriffe. Geht es um das Miteinander, sprechen sie von kooperativen Spielen. Steht der Wettstreit im Mittelpunkt, ist von kompetitiven Spielen die Rede.
Informationen werden weitergegeben
Außer Frage steht aus Sicht von Fachleuten, dass in Gestalt von Spielen Informationen bewahrt und weitergegeben werden, die für die jeweilige Kultur wichtig sind. Das heißt: An der Art der gewählten Spiele lässt sich zum Beispiel ablesen, welcher Stellenwert der Zusammenarbeit oder dem Wettbewerb beigemessen wird. Wie die Psychologin Sarah Leisterer-Peoples vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig erklärt, ist in Deutschland davon auszugehen, dass mit einer höheren Wahrscheinlichkeit auf Wettbewerb ausgerichtete Spiele gespielt werden.
Die Wissenschaftlerin hat kürzlich gemeinsam mit Kollegen im Fachjournal "PLOS ONE" eine Studie veröffentlicht, die der Frage nachgeht, was genau die Gründe dafür sein könnten, dass in einer bestimmten Kultur eher kooperative oder eher kompetitive Spiele gespielt werden. Frühere Untersuchungen hatten Hinweise geliefert, dass in hierarchischen Kulturen mit deutlichen Unterschieden zwischen Menschen beim gesellschaftlichen Rang und Wohlstand der Schwerpunkt auf wettbewerbsorientierten Spielen liegt, während in Kulturen mit allenfalls geringen Unterschieden die kooperative Seite dominiert.
Am Beispiel historischer Daten zu 25 unterschiedlichen Kulturen im Gebiet des Pazifischen Ozeans zeichnet die internationale Gruppe um Sarah Leisterer-Peoples ein genaueres Bild. Diesem liegen nicht nur Erkenntnisse über 168 in der Region gespielte Spiele zugrunde, sondern zum Beispiel auch darüber, wie häufig Mitglieder innerhalb einer Kultur oder verschiedene Kulturen untereinander in Konflikt gerieten und wie oft Mitglieder einer Gemeinschaft zusammen jagten oder fischten. Wie sich herausstellte, dominierten in Kulturen, die häufiger Konflikte mit anderen Kulturen austrugen, auf Zusammenarbeit ausgerichtete Spiele. Gab es hingegen oft Konflikte innerhalb einer Kultur, schlug das Pendel in Richtung der auf Wettbewerb ausgerichteten Spiele aus.
Psychologin erklärt Studienergebnisse
Zur Erklärung der Ergebnisse greift die Leipziger Psychologin auch auf Theorien zur Entwicklungsgeschichte des Lebens, zur sogenannten Evolution, zurück: "In Zeiten des Konflikts mit anderen Gruppen sind Individuen aufeinander angewiesen. Kooperation ist hier besonders wichtig." Einiges spricht für die Annahme, dass die Menschheit bereits sehr früh in ihrer Entwicklungsgeschichte den Nutzen der Zusammenarbeit erkannt hat. Diese erleichterte zum Beispiel die Jagd auf große Tiere. Außerdem war es gemeinsam mit anderen einfacher, sich vor Feinden oder einer unwirtlichen Umwelt zu schützen. Der Gedanke liegt nahe, dass aus gemeinsamen Anstrengungen auch das Ideal entstanden ist, gerecht mit anderen zu teilen. Vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen kann eine Einstellung entstehen, die als uneigennützig oder altruistisch bezeichnet wird.
"Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Spiele, die wir spielen, die kulturellen Merkmale der Gesellschaft widerspiegeln, in der wir leben", erklärt Sarah Leisterer-Peoples. Sie bilden demnach praktizierte Verhaltensweisen ab und eröffnen einen Weg, um Kindern Normen der Gruppe zu vermitteln, in die sie hineingeboren wurden.
Kinder erwerben viele Fähigkeiten
Klar ist aber auch, dass es beim kindlichen Spielen noch um sehr viel mehr geht. Schon während ihres ersten Lebensjahres fangen Kinder an zu kombinieren. Genau dies geschieht zum Beispiel, wenn sie einen Gegenstand in eine Öffnung stecken. Wissenschaftler sehen im spielerischen Kombinieren von Gegenständen eine Vorstufe komplexer Verhaltensweisen, etwa des Gebrauchs von Werkzeugen. Ob Kinder vor dem Spiegel Grimassen schneiden, mit der Gabel Muster in den Kartoffelbrei ziehen, einen Stein werfen, eine Höhle bauen oder auf einen Baum klettern: Für sie wird alles schnell zum Spiel. Sie lernen spielerisch, wie Dinge funktionieren und wozu sie zu gebrauchen sind. Dieses Lernen ist sehr viel mehr als die bloße Ansammlung von Wissen. Wenn Kinder spielen, erwerben sie zugleich die Fähigkeit, ihre Hände und Finger geschickt einzusetzen. Das Spielen fördert ihr Selbstvertrauen und ihre Kreativität. Und sie lernen, Regeln einzuhalten. In den Worten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung klingt es so: "Spielen ist der natürliche Weg eines jeden Kindes, sich mit der Welt vertraut zu machen, sie zu begreifen und auf sie einzuwirken. Spielend lernen Kinder ihren Körper kennen und beherrschen, schulen ihre Wahrnehmung und üben Geschicklichkeit."
Vor diesem Hintergrund haben Fachleute immer wieder auch betont, wie wichtig Erfahrungen mit der Umwelt seien, etwa beim Kontakt mit der Natur. Vom Neurobiologen Gerald Hüther stammt dieser Satz: "Niemand käme auf die Idee, kleine Kätzchen auf das Mäusefangen vorzubereiten, indem durch Lernprogramme zunächst das Stillsitzen und Beobachten, später das Zupacken und Festhalten und schließlich das Fressen einer Maus geübt wird." Das Gehirn sei so gebaut, dass es bestmöglich auf das Lösen von Problemen vorbereitet sei und nicht etwa aufs Auswendiglernen. Kinder müssten fast alles, worauf es im späteren Leben ankomme, durch eigene Erfahrungen lernen. Diese Erfahrungen machten sie am besten dann, wenn sie Aufgaben bewältigen müssten, die sie selbst als Problem wahrnähmen und die ihnen nicht von anderen vorgegeben würden. In der Begegnung mit der Natur erführen Kinder, dass es unendlich viel zu entdecken, zu gestalten und auch zu bewahren gebe.