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Die Kunst des Klebens Was Forscher von Misteln und Muscheln lernen

Ob Briefmarke, Haftnotiz oder Pflaster: Viele Alltagsprodukte zeugen davon, dass das Kleben ein allgegenwärtiges Phänomen ist. Auch die Natur ist voller Beispiele dafür.
28.06.2022, 00:00 Uhr
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Was Forscher von Misteln und Muscheln lernen
Von Jürgen Wendler

Polyvinylacetat ist ein aus Kohlenstoff-, Wasserstoff- und Sauerstoffatomen aufgebauter Kunststoff. Vor gut einem Jahrhundert erstmals hergestellt, dient dieser Stoff seither unter anderem als Grundlage für Kleber. Kunststoffe wie Polyvinylacetat haben für die Produktion von Klebstoffen vielfältige Möglichkeiten eröffnet. Dass es zum Kleben allerdings nicht unbedingt des menschlichen Erfindungsreichtums bedarf, lehrt das Beispiel der Natur. Klebstoffforschern liefert sie wertvolle Anregungen, wie nicht zuletzt eine aktuelle Studie zu Mistelbeeren beweist.

Die Weißbeerige Mistel, in der Regel einfach Mistel genannt, ist eine in den milderen Gebieten Europas weitverbreitete immergrüne Pflanze, die sich auf den Ästen von Laubbäumen ansiedelt. Als Parasit entzieht sie dem Holz der Bäume Wasser und Mineralsalze. Im Fachjournal "PNAS Nexus" schildern Materialwissenschaftler um Nils Horbelt vom Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam ihre Erkenntnisse über die starken Klebeeigenschaften der flexiblen Fasern der Mistelbeeren. Ob Haut, Knorpel oder künstliche Materialien – die Fasern haften. Der Hintergrund: In den Beeren entsteht eine klebrige, als Viscin bezeichnete Substanz, die bei der Verbreitung der Samen hilft. Vögel fressen die Beeren, und mit ihnen gelangen die Samen zu Ästen von Wirtsbäumen, wo sie haften bleiben.

Viele Anwendungsmöglichkeiten

Wie Nils Horbelt und seine Mitautoren festgestellt haben, lassen sich die Viscinfasern im nassen Zustand zu dünnen Filmen dehnen beziehungsweise zu dreidimensionalen Strukturen zusammenfügen. Verschiedene Anwendungen seien vorstellbar. So könne der natürliche Kleber möglicherweise eingesetzt werden, um Wunden zu verschließen. Wie sich gezeigt habe, hafte er auch an Metallen, Glas und Kunststoffen.

Eine wichtige Voraussetzung dafür, dass handelsübliche Klebstoffe ihre Aufgabe erfüllen, sind in der Regel trockene und saubere Oberflächen – Bedingungen, wie sie in der Natur gewöhnlich nicht gegeben sind. Dass natürliche Klebstoffe dennoch funktionieren, macht sie für Forscher besonders interessant. Mit einem von einer Entenmuschel namens Dosima fascicularis hergestellten Klebstoff haben sich in den vergangenen Jahren unter anderem Fachleute des Bremer Fraunhofer-Instituts für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung beschäftigt. Das von den Tieren abgesonderte Material, das an Eischnee erinnert, härtet im Wasser aus. Es besteht überwiegend aus Wasser und enthält zudem Eiweißstoffe (Proteine) und Kohlenhydrate. Zu den Eigenschaften des porösen Materials gehören neben einer extrem großen Haftkraft auch ein hohes Maß an Elastizität sowie eine stoßdämpfende Wirkung. Mit seiner Hilfe sind die wenige Zentimeter großen Tiere in der Lage, sich an Treibgut zu heften. Darüber hinaus kann ihnen das schaumartige Material als Floß dienen.

Dass auch andere Meeresbewohner über besondere Materialien und Techniken zum Kleben verfügen, belegen nicht zuletzt Miesmuscheln und Rippenquallen. An den Tentakeln der Quallen befinden sich klebrige Strukturen, die als Colloblasten oder Klebzellen bezeichnet werden. Wenn Beutetiere wie kleine Planktonorganismen mit den Tentakeln in Berührung kommen, platzen die Klebzellen auf und setzen einen klebrigen Faden frei. Die Beute bleibt an den Tentakeln haften. Miesmuscheln wiederum heften sich mithilfe von stabilen, dehnbaren Fasern – Muschelseide oder Byssusfäden genannt – an den Untergrund. Die Fasern bestehen aus unterschiedlichen Proteinen, die aus einer Drüse am Fuß der Weichtiere abgesondert werden, und sind von einer dünnen Oberhaut bedeckt, die selbst dann nicht reißt, wenn sie stark gedehnt wird. Die Schutzschicht enthält hohe Konzentrationen der Aminosäure Dihydroxyphenylalanin, kurz DOPA. Aufgrund ihres chemischen Aufbaus kann sie sehr stabile Verbindungen zu Metallen und Mineralien knüpfen.

Blick in die Geschichte

Kleber auf der Grundlage synthetisch hergestellter Rohstoffe wie Polyvinylacetat gibt es zwar erst seit gut einem Jahrhundert, doch um die Möglichkeiten des Klebens wussten Menschen schon lange vorher. So zeugen zahlreiche Funde aus der Steinzeit davon, dass Birkenpech verwendet wurde, so etwa zum Befestigen von Pfeilspitzen oder zum Abdichten von Gefäßen. Von Neandertalern ist zum Beispiel bekannt, dass sie mit Birkenpech Steinkratzer an Holzgriffen befestigten. Klebriges schwarzes Birkenpech lässt sich gewinnen, indem frisch geschnittene oder abgestorbene Birkenrinde verbrannt wird. Andere Beispiele für bereits vor Jahrtausenden verwendete Materialien zum Kleben sind Baumharz und Asphalt. Letzterer kann künstlich hergestellt werden, aber auch unter natürlichen Bedingungen entstehen. Wenn Erdöl an die Erdoberfläche gelangt, Gase entweichen und Mikroorganismen Bestandteile abbauen, kann er als zähflüssiges Gemisch übrig bleiben.

Zur Sache

Adhäsion und Kohäsion

Um die Grundlagen des Klebens zu erklären, bedienen sich Fachleute der beiden Begriffe Kohäsion und Adhäsion. Kohäsionskräfte sorgen für den Zusammenhalt der Bausteine innerhalb eines bestimmten Stoffes, also zum Beispiel für die innere Festigkeit einer Klebschicht. Von Adhäsion ist die Rede, wenn ein Stoff oder Körper an einem anderen haftet. Letztlich beruht diese Haftung auf Anziehungskräften im atomaren Bereich. Ein Beispiel für ihr Wirken liefern Geckos. Zahllose Härchen an den Zehen der Tiere kommen in direkten Kontakt mit der Oberfläche, und dabei wirken Kräfte.

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