Online-Unterricht, fehlende soziale Kontakte und Zukunftsängste: Die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen stellt Kinder und Jugendliche seit über einem Jahr auf eine harte Probe. Ablenkung suchen die Heranwachsenden aber nicht nur in neuen Hobbys, sondern auch vermehrt in problematischen Konsummitteln. Beim Suchthilfe-Verein Release aus dem Landkreis Diepholz hat es laut Suchtberater Erik Walsemann seit dem vergangenen Jahr einen Anstieg an Beratungsnachfragen gegeben.
Dass viele stabilisierende Faktoren wie Schule, Hobbys und Freunde nun wegfallen, sei für junge Menschen besonders belastend und gefährde sie. „Diese Faktoren stärken normalerweise auch Kinder, die unter schlechten Bedingungen leben“, sagt Walsemann. „Die Pandemie führt nun zu einer großen Verunsicherung, was zum Beispiel Themen wie den Schulabschluss angeht.“ Einige Kinder und Jugendliche würden sich Alternativen zu ihren früheren Aktivitäten suchen, die nicht immer gesund seien. Laut dem Suchtberater ist es ohne diese Faktoren außerdem für Menschen, die aus der stationären Reha kommen, schwieriger, sich im Alltag wieder zu orientieren.
Präventionsprojekte und -veranstaltungen seien ein wichtiger Baustein, um Suchterkrankten zu helfen und es sei problematisch, dass diese nun aufgrund der Beschränkungen wegfallen würden. „Wir sind nun nicht mehr so präsent für Schüler und soziale Einrichtungen“, bedauert Walsemann. Dabei sei es wichtig, bei den Jugendlichen „in guter Erinnerung“ zu bleiben, damit ihre Hemmungen, sich bei Suchtproblemen Hilfe zu suchen, weniger groß seien.
Während Alkohol bei den Beratungen des Vereins im Allgemeinen nach wie vor das Suchtmittel Nummer eins sei, würden Jugendliche inzwischen auch mehr Cannabis und Medien konsumieren. „Eltern von Kindern, die Cannabis konsumieren, wenden sich allerdings auch öfter an uns, da sie sich mit der Droge weniger auskennen und sie oft als Einstiegsdroge sehen“, informiert Walsemann. Dabei seien die Jugendlichen nicht in jedem Fall von dem Rauschmittel abhängig. Alkoholkonsum bei Jugendlichen werde dagegen öfter von Eltern toleriert.
Laut dem Brinkumer Kinderarzt Soumya Phillip Datta gab es im vergangenen Jahr statistisch gesehen einen leichten Rückgang an Kindern und Jugendlichen, die Alkohol missbrauchen. „Diese Entwicklung wurde mit Sicherheit stark von den Beschränkungen im Jahr 2020 beeinflusst, da das Trinken in größeren Gruppen nicht mehr möglich war.“ Dennoch gebe es auch immer mal wieder Jugendliche, die sich „ins Koma saufen“ und dann zur Kontrolle in seine Praxis kommen würden. Die jüngsten Betroffenen seien erst 13 Jahre alt. Der Kinderarzt warnt vor den Folgen des Rauschmittels: „Alkohol ist toxisch und der Konsum kann vor allem bei jüngeren Menschen neurologische Schäden hinterlassen.“ Außerdem könne sich Alkohol für einige auch zur Einstiegsdroge entwickeln.
Laut Patrick Ehnis, Präventionsberater beim Suchthilfe-Verein Release, ist zudem zu befürchten, dass sich der Alkoholkonsum von Eltern verstärkt nach Hause verschiebt. „Die Kinder bekommen mit, wenn die Eltern zu Hause zur Entspannung rauchen oder trinken“, sagt Ehnis. „Eltern sollten trotz der Schwierigkeiten der Pandemie darauf achten, was sie ihren Kindern vorleben.“ Durch Corona habe sich außerdem die Situation von vielen Kindern, die in suchtbelasteten Familien leben, noch weiter verschärft.
Doch nicht nur Drogen stellen für Kinder und Jugendliche eine Gefahr dar. „Aus dem ersten Lockdown wissen wir, dass der Medienkonsum besonders unter Kindern und Jugendlichen im Alter von zwölf bis 17 Jahren stark zugenommen hat“, sagt Patrick Ehnis. Medien seien ein Lückenfüller und würden oft benutzt, um Langeweile zu überbrücken. Während der Pandemie ist das Internet laut Erik Walsemann für viele außerdem besonders wichtig, um mit Freunden in Kontakt zu bleiben, sich zu profilieren und verschiedene Rollen auszuprobieren.
Mädchen würden sich seiner Erfahrung nach eher im Bereich der sozialen Medien, zum Beispiel bei Instagram oder Tiktok, aufhalten, während Jungen eher Videospiele nutzen würden. „Dieser hohe Konsum ist gefährlich, denn durch Videospiele verändert sich das Belohnungssystem im Gehirn“, sagt Soumya Phillip Datta. Während in Spielen viele positive Ereignisse aufeinander folgen würden, sei es im echten Leben schwieriger, schnelle Erfolgserlebnisse zu haben. Patrick Ehnis rät Eltern deshalb, bei Medien Regeln einzuführen und zum Beispiel ab und zu mitzuspielen, um zu sehen, was ihre Kinder da eigentlich konsumieren.
Kampagne „Bunt statt blau“
Auch das sogenannte Komasaufen bleibt weiterhin ein Problem. Allein im Jahr 2019 landeten laut der DAK-Gesundheit 50 Kinder und Jugendliche im Landkreis Diepholz mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus. Das bedeute nach den offiziellen Zahlen des Statistischen Landesamtes Niedersachsen im Vergleich zu 2018 einen Anstieg der Betroffenen-Zahl um 11,1 Prozent. „Viele Jugendliche überschätzen sich und glauben, Alkohol gehöre zum Feiern und Spaßhaben dazu“, sagt Larissa Ernst von der DAK-Gesundheit in Syke. Weiterhin Anlass zur Sorge gebe der Alkoholmissbrauch bei den weiblichen Kindern und Jugendlichen bis 20 Jahren. „Hier ist die Zahl in Niedersachsen zwar fast unverändert geblieben“, sagt Ernst. „In der Region Diepholz waren es jedoch 47,4 Prozent mehr als im Jahr zuvor.“
Zur Aufklärung setzt die Krankenkasse auch in diesem Jahr die Kampagne „Bunt statt blau – Kunst gegen Komasaufen“ im Landkreis Diepholz fort. Zum zwölften Mal werden beim bundesweiten Wettbewerb Schüler zwischen zwölf und 17 Jahren aufgerufen, mit Plakaten kreative Botschaften gegen das Rauschtrinken zu entwickeln. Auch die Schulen in der Region wurden angeschrieben und zur Teilnahme eingeladen. Einsendeschluss für den Wettbewerb ist Freitag, 30. April. „An der mehrfach ausgezeichneten Präventionskampagne gegen Alkoholmissbrauch nahmen seit dem Jahr 2010 mehr als 110.000 junge Künstler teil“, informiert Larissa Ernst. Weitere Informationen über die Aktion gibt es im Internet unter www.dak.de/buntstattblau.