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Interview zum Coming-out "Jugendliche haben Angst vor Ablehnung"

Um das Coming-out in der Familie geht es bei einem Vortrag in Brinkum. Im Interview mit dem WESER-KURIER spricht Referentin Caro Schulze vom Bremer Rat- und Tat-Zentrum für queeres Leben über das Thema.
23.04.2022, 09:00 Uhr
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Von Eike Wienbarg

Frau Schulze, laut Angaben der Ambulanten Kinder- und Jugendhilfen Stuhr sind mindestens zehn Prozent der Jugendlichen in Deutschland lesbisch, schwul, bisexuell, trans*, inter* oder queer. Was verbirgt sich hinter den Begriffen queer, trans* und inter*, wofür steht das Sternchen und was sind die Unterschiede?

Caro Schulze: Lesbisch, schwul und bisexuell sind Begriffe, um sexuelle Orientierungen zu beschreiben, trans* und inter* sind Bezeichnungen für geschlechtliche Identitäten. Um die Vielfalt an geschlechtlichen Identitäten auszudrücken wird häufig das Gendersternchen oder auch der Unterstrich verwendet. Queer ist der Begriff, der häufig als Oberkategorie verwendet und von Menschen verwendet wird, die sich eben nicht eindeutig als hetero oder (cis)männlich oder (cis)weiblich verstehen.

Was genau ist unter dem Begriff Coming Out zu verstehen?

Wir unterscheiden zwischen dem inneren und dem äußeren Coming-out. Es ist meist ein langwieriger Prozess der Bewusstwerdung einer sexuellen Orientierung und/oder geschlechtlichen Identität, die nicht der (vermeintlichen) Norm entspricht.

Viele Jugendliche haben gerade in der Familie Probleme, ihre sexuelle Identität zu offenbaren. Woran liegt das?

Die Jugendlichen haben Angst vor Ablehnung und nicht ernst genommen zu werden. Eltern sind in Coming-out-Prozessen eine ganz wichtige Ressource für ein gelungenes Coming-out.

Welche Sorgen haben Eltern in diesem Zusammenhang?

Eltern wünschen sich für ihre Kinder ein gutes Leben. Sie haben oft Angst, dass ihre Kinder gemobbt und diskriminiert werden. Sie sind besorgt um das Wohl ihrer Kinder.

Gibt es dabei einen Unterschied zwischen Stadt und Land oder zwischen kulturellen Hintergründen?

In der Stadt gibt es häufig mehr Anlaufstellen als auf dem Land und meistens auch eine größere Sichtbarkeit von queeren Menschen, die als Vorbilder dienen können, was ein Coming-out erleichtert. Generell lässt sich sagen, dass traditionelle Geschlechterrollenentwürfe auch insbesondere in religiösen Settings – egal welche Ausrichtung – ein Coming-out deutlich erschweren.

Nimmt die Akzeptanz mit den verschiedenen Elterngenerationen zu?

Mit einer rechtlichen Liberalisierung steigt auch immer die Akzeptanz.

Wie können Eltern ihre Kinder auf dem Weg zur Findung der eigenen sexuellen Identität positiv begleiten?

Eltern sollten sich selbstständig informieren und sich eventuell mit anderen Eltern über Unsicherheiten und Ängste austauschen. Sie sollten deren Wünsche im Coming-out unbedingt respektieren und sich auch an der Geschwindigkeit der Jugendlichen orientieren. Ein Fremdouting ist unbedingt zu vermeiden.

Wie können andere pädagogische Fachkräfte helfen?

Je offener und selbstverständlicher in der Schule oder am Ausbildungsplatz mit dem Thema "Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt" umgegangen wird, umso hilfreicher ist es für die Jugendlichen und die Eltern. Die Fachkräfte sollte sich über ihre rechtlichen Möglichkeiten informieren.

Oftmals geben sich Eltern nach außen hin offen, im Inneren können sie sich aber nur schwer mit der Sexualität ihrer Kinder anfreunden. Wie können unterschwellige Konflikte vermieden werden?

Vielleicht sollten die Eltern eine Elterngruppe aufsuchen, um sich auszutauschen? Oder aber sich zum Beispiel in einer Beratungsstelle beraten lassen? Es ist gut, die eigenen Unsicherheiten und Ängste wahrzunehmen und nicht wegzudrücken.

Was können Eltern tun, die die Sexualität ihrer Kinder nicht akzeptieren können, aber ihren Nachwuchs trotzdem unterstützen wollen?

Sie sollten eine Beratungsstelle aufsuchen. Wenn so ein existenzieller Bereich des eigenen Kindes nicht akzeptiert werden kann, dann sollten die Ängste der Eltern nochmal in Ruhe angeschaut werden. Die Frage ist nicht so einfach zu beantworten.

Wann und wie sollten Jugendliche ein Coming-out wagen?

Jugendliche sind die Expert*innen für ihr Coming-out. Ein Coming-out ist mit Unterstützung und Akzeptanz von Eltern, Schule und Freund*innen natürlich einfacher zu wagen als in einem Umfeld der Ablehnung oder Ignoranz. Viele Jugendliche warten mit ihrem Coming-out bis nach ihrem Auszug aus dem Elternhaus oder nachdem sie die Schule verlassen haben aus Angst vor Diskriminierung.

Wie können sich Jugendliche vor Mobbing oder Anfeindungen aufgrund ihrer Sexualität schützen?

Gute Antidiskriminierungsstrukturen in der Schule sind wichtig und rechtliche Grundlagen in der Schulordnung, die es ihnen möglich macht, sich zu schützen. Jugendliche brauchen die Unterstützung von Erwachsenen und den Institutionen.

Wie wichtig sind öffentliche Vorbilder für Jugendliche auf dem Weg zum Coming-out?

Absolut wichtig. Da geht es um die Sichtbarkeit und um Zugehörigkeit und auch darum, eine sprachliche Kategorie für die eigene Gefühlswelt zu finden.

Welche Botschaft wollen Sie den Zuhörern beim Vortrag in Brinkum vermitteln?

Ich bin immer begeistert, wie sehr sich Eltern für ihre Kinder einsetzen und was durch ihr Engagement bewegt wird und welche positiven Auswirkungen dies für die queeren Kinder und Jugendlichen hat. Und jedes Kind, jeder Jugendliche sollte die Möglichkeit für ein gelungenes Coming-out haben, da diese Erfahrungen den Lebensweg mitprägen werden.

Wo können Jugendliche, aber auch Eltern Rat finden?

Bei uns in der Beratungsstelle des Rat- und Tat-Zentrums für queeres Leben oder bei Trans* Recht e.V.. Besonders hinweisen möchte ich auf die Elterngruppe für trans* und non-binäre Kinder und Jugendliche, die sich einmal im Monat trifft. Die Initiatorin und Koordinatorin der Elterngruppe Bärbel Schaudin-Fischer wird während des Vortrages als Referentin anwesend sein.

Das Interview führte Eike Wienbarg.

Zur Person

Caro Schulze

ist Diplom-Soziologin und systemische Therapeutin (SG). Sie arbeitet seit 2014 in der Beratungsstelle des Rat- und Tat-Zentrums für queeres Leben in Bremen. Die Beratung von Paaren, Eltern und (Regenbogen-)familien ist ein ihrer inhaltlichen Schwerpunkte ebenso wie die queere Bildungsarbeit zu verschiedensten Themen im Bereich sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Sie hat über mehrere Jahre die Schulaufklärungsgruppe im Rat- und Tat-Zentrum koordiniert.

Zur Sache

Vortrag in Brinkum

Caro Schulze und ihre Kollegin Bärbel Schaudin-Fischer vom Rat- und Tat-Zentrum für queeres Leben in Bremen sind am Mittwoch, 27. April, zu Gast in der Veranstaltungsreihe Werkstatt Erziehung der Ambulanten Kinder- und Jugendhilfen Stuhr in Brinkum. Ihr Vortrag ab 19.30 Uhr in der Aula der Grundschule Brinkum an der Feldstraße 15 (Zugang über den Parkplatz an der Meyerstraße) steht unter dem Thema „Coming-out in der Familie“. Dann soll es unter anderem um folgende Fragen gehen: Wann und warum haben junge queere Menschen ein Coming-out? Welche unterschiedlichen Verläufe gibt es dabei? Welche Fragen und Sorgen beschäftigen Eltern? Wie können Eltern ihr Kind liebevoll und respektvoll unterstützen und begleiten? Neben Eltern sind auch pädagogische Fachkräfte und alle anderen Interessierten eingeladen.

Anmeldungen zu der Veranstaltung sind erwünscht. Diese nimmt die Volkshochschule (VHS) des Landkreises Diepholz telefonisch unter der Rufnummer 0 42 42 / 9 76 44 44 und der Kursnummer 03105003 entgegen. Organisiert und moderiert wird die Veranstaltungsreihe von den Mitarbeiterinnen der Ambulanten Kinder- und Jugendhilfen Stuhr Maren Friedel und Tanja Sievers.

Weitere Informationen zum Thema gibt es auch im Internet unter www.ratundtat-bremen.de.

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