Der Saal im Gasthaus Zur Penne in Twistringen platzte am Donnerstagabend aus allen Nähten. Die Tische lagen voll mit bunten Wahlprospekten aller Kandidaten der Bundestagswahl – zumindest derer, die zur Podiumsdiskussion der Europa-Union eingeladen waren. Dazu zählten Axel Knoerig (CDU), Peggy Schierenbeck (SPD), Thomas Heidemann (Grüne), Michael Barth (Linke) und Heike Hannker (FDP). Kareen Heineking von den Freien Wählern war zwar nicht geladen, durfte aber nach Absprache mit Moderator Gerhard Thiel im Nachgang noch ihre Position darstellen. Dennoch: Genauso wenig geladen worden zu sein wie "jemand, der der Identitären Bewegung angehört", trieb ihr die Tränen in die Augen.
Thiel hatte ihre Nicht-Einladung damit begründet, es sei bei der Europa-Union "Tradition, nur Parteien einzuladen, die im Bundestag vertreten" seien. Die AfD nicht einzuladen, hätte dagegen einen anderen Grund gehabt: die "Unvereinbarkeit der Europa-Union mit den Parteien, die die Europäische Union abschaffen wollen", so Thiel. Unter dem Motto "Deutschland wählt – Europa zählt" ging es anschließend auf dem Podium vor allem um Fragen, die eben Europa betreffen: Vom Arbeitsmarkt über Finanzen und Wirtschaft, Militär und Verteidigung, aber auch sogenannte europäische Werte bis hin zu Justiz und Migration sollten die Kandidaten darlegen, was sie im Sinne Europas zu tun gedächten.
Keine Lust auf Verschwörungstheorien
Verlief die Debatte anfangs noch recht geordnet, so mischten sich nach kurzer Zeit die Themen und Statements. Zu Beginn gab Thiel jedem Kandidaten die Gelegenheit, zu erläutern, warum er oder sie überhaupt kandidiere: "Ich habe keine Lust auf Verschwörungstheorien", so begann Michael Barth (Linke). Er wolle im linken politischen Spektrum Verlässlichkeit bieten und fand es "sehr befreiend, dass das BSW (Bündnis Sahra Wagenknecht) uns von der Fahne gegangen ist". Heike Hannker (FDP) wollte einfach "für die fünf Prozent kämpfen", weil ihrer Meinung nach "eine liberale Partei in den Bundestag" müsse.
Peggy Schierenbeck (SPD) verwies darauf, dass sie "als Unternehmerin auch europäisch gearbeitet" hätte und wie schön es seinerzeit gewesen sei, als es quasi keine Grenzen mehr in Europa gegeben hätte. Axel Knoerig (CDU) gab gleich konkrete Hinweise auf Telekommunikations- und Gasnetze, die quer durch Europa verlaufen würden. Thomas Heidemann (Grüne) mahnte, Europa sei wichtig, man könne nur gemeinsam vorankommen. Statt auf Trumps Forderung "America First" mit "Germany First" zu antworten, müsse es heißen: "Europe United".
Schon am Mindestlohn schieden sich indes die Geister: Während Schierenbeck die Forderung der SPD nach einem einheitlichen Mindeststundenlohn von 15 Euro verteidigte und Barth sich dem anschloss, fragte Hannker ganz offen, wie dieser gerade in Osteuropa "gestemmt" werden könne. Heidemann waren "einheitliche Arbeitsbedingungen" wichtiger als ein gleicher Lohn, und Knoerig war froh, dass die Entscheidung jetzt bei einer neu eingerichteten Mindestlohnkommission läge: "Politik sollte sich in wirtschaftlich schwierigen Zeiten zurückhalten."
Je weiter der Abend fortschritt, desto weiter auseinander gingen die Positionen der Kandidaten: Hannker und Knoerig waren dankbar für Freihandelsabkommen wie Mercosur, Barth dagegen generell skeptisch. Emotional wurde es beim Thema Militär: Heidemann "als Grüner, der aus der Friedensbewegung kommt", fiel es sichtlich schwer, darüber zu sprechen, dass Europa selbstständiger in puncto Waffen werden müsse: "Auch für den Fall, dass die USA unter Trump aus der NATO austreten."
Möglicher russischer Angriffskrieg thematisiert
Nicht nur die Kandidaten auf dem Podium, auch die Zuhörer im Saal bewegte das Thema eines möglichen russischen Angriffskrieges sehr. Hannker forderte ein gemeinsames europäisches Heer, in dem jedes Mitgliedsland der EU sich "ein bisschen spezialisieren" solle, um anschließend alles zu bündeln. Auch Barth war überzeugt von einer europäischen Armee, konnte sich aber durchaus einen NATO-Austritt Deutschlands vorstellen. Schierenbeck plädierte gar für die Wiedereinführung einer Wehrpflicht: "Wir müssen kriegstauglich sein!" Knoerig verwies auf die "Zeitenwende" in der Wehrhaftigkeit und berichtete, dass ja auch schon Feuerwehren und das Technische Hilfswerk für Krisenfälle üben würden. Auf die Frage des DGB-Kreisverbandsvorsitzenden Michael Müller aus dem Publikum, wie das alles bezahlt werden solle "von Parteien, die an der Schuldenbremse festhalten", gab es keine zufriedenstellende Antwort.
Im weiteren Verlauf vermischten sich bei Fragen nach ihren europäischen Werten Statements der Kandidaten mit unterschiedlichen Vorschlägen zum Problem Migration. Schierenbeck, die sich "als Europäerin sieht", gab ihre Richtlinie vor: "Humanität ist für mich als Sozialdemokratin das höchste Gebot." Und man hätte es schließlich geschafft, wie Merkel einst angekündigt hatte: "1,1 Millionen Geflüchtete sind mittlerweile in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung." Barth forderte "Arbeitserlaubnisse ab dem ersten Tag"; für Die Linke sei "Asylrecht ein Menschenrecht, das würden wir niemals abschaffen". Mit seiner Forderung nach "Gerechtigkeit und Frieden für Europa" verwies Heidemann auf das Programm der Grünen, in dem "Respekt vor Vielfalt" ein Punkt sei. Hannker wollte lieber die Flucht in Booten übers Mittelmeer "möglichst unattraktiv" machen, denn "unsere Aufnahmekapazitäten sind begrenzt, die Kommunen kommen an die Grenzen". Das Schengen-Abkommen müsse aber bleiben.
Eine Frage aus dem Publikum nach Frauenrechten, speziell nach dem Schutz vor Vergewaltigern und Abschaffung des Abtreibungsparagrafen 218, brachte im Anschluss Schierenbeck in Rage: Gerade hätten CDU und FDP im Bundesrat verhindert, dass der Paragraf 218, der Schwangerschaftsabbrüche kriminalisiere, geändert werde. Auch Anträge von SPD und Grünen, in denen es beispielsweise um mehr Befugnisse für die Bundespolizei ginge, damit diese schneller Täter überführen könne, wären "von der CDU blockiert" worden. Sie forderte Knoerig auf, "hier jetzt Verantwortung zu übernehmen".
Fortan wehte insbesondere Knoerig ein schärferer Wind ins Gesicht. Zuhörer Hermann Schröder, der für die Unabhängige Wählergemeinschaft im Kreistag sitzt, wollte von ihm wissen, wie CDU und FDP die vorgegebenen europäischen Ziele wie das Pariser Klimaabkommen einzuhalten gedächten – "trotz Schuldenbremse"? Ein weiterer Zuhörer warf Knoerig vor, er würde dem Anspruch des "C" für christlich im Namen der Partei "zurzeit nicht gerecht".