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Rettungsmediziner Jörn Hock aus Lilienthal „Es gibt Bilder, die vergesse ich nicht“

Jörn Hock aus Lilienthal ist seit 20 Jahren Rettungsmediziner im Landkreis Osterholz. Im Interview erzählt er, wie er schwierige Einsätze verarbeitet.
06.08.2020, 05:01 Uhr
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„Es gibt Bilder, die vergesse ich nicht“
Von Silke Looden

Herr Hock, als Notarzt sind Sie oft der Erste am Einsatzort. Warum haben Sie diesen Beruf ergriffen?

Jörn Hock: Mediziner wird mancher wegen des Geldes oder des Sozialprestiges. Ich habe den Beruf gewählt, weil mich die Notfallmedizin seit dem 14. Lebensjahr interessiert. Ich steige mit 63 Jahren immer noch nachts in die Jodelkiste, mache drei bis vier Dienste im Monat. Wenn es klingelt, fahre ich raus, ganz egal, ob es ein Herzinfarkt ist oder einer, der vor den Baum gefahren ist.

Sie nennen den Notarztwagen eine Jodelkiste. Ist das Ihre Art mit schweren Situationen umzugehen?

Der Schwarze Humor ist sicher eine Methode. Aber das Leben besteht nun einmal nicht nur aus hübschen jungen Menschen, sondern auch aus Alten, Kranken und Sterbenden.

Muss man ein besonderer Typ sein, um den Anblick eines schrecklichen Unfalls aushalten zu können?

Ja, die Bilder sind nicht schön. Bei Eisenbahnunfällen zum Beispiel, da fahren die Betroffenen unterhalb des Zuges zwischen Gleis und Waggonboden zig Meter weit mit. Wenn ich kann, versuche ich die jungen Kollegen, zum Beispiel von der Freiwilligen Feuerwehr, von der Unfallstelle fernzuhalten.

Kommen die Bilder später wieder hoch?

Vor Ort muss man erst einmal funktionieren. Zuerst die Eigensicherung, deshalb sehe ich aus wie ein Tannenbaum in meinem Einsatz-Overall mit all den Reflektoren. Wenn ich die nicht hätte, wäre ich schon mehr als einmal während des Einsatzes auf der Straße überfahren worden. Dann ist die Frage, ob es weitere Kräfte braucht oder schwarze Autos, falls es Tote gibt. Gegebenenfalls werden die Nachbarlandkreise um Hilfe gebeten. Dann erst kommt die eigentliche medizinische Versorgung. Die Rettungsleitstelle klärt für uns, wo wir den Patienten oder die Patienten hinbringen können. Irgendwann ist der Einsatz abgeschlossen, entweder mit einem Totenschein, mit einer Übergabe an die Klinik oder der Patient kann zu Hause bleiben. Erst danach macht man sich Gedanken darüber, was eigentlich genau passiert ist.

Bleiben die Bilder im Kopf?

Es gibt Bilder, die vergesse ich nicht. Je nachdem, was passiert ist, kommen die Bilder in den Tagen danach noch einmal wieder. Aber wenn man sich eine Strategie erarbeitet hat, wie man damit umgeht, dann verschwinden diese Bilder auch wieder. Sie bleiben sozusagen im Archiv.

Wie ist denn Ihre Strategie?

Ich spreche viel über das, was ich erlebt habe, über die Einsätze, nicht über die Bilder. Das kann man schlecht beschreiben. Es braucht einen Menschen, dem man vertraut. Bei mir ist es meine Ehefrau, der ich erzählen kann, was mich bewegt und was ich erlebt habe. Manchmal ist es auch der Ärger über die Leichtsinnigkeit, wenn ein Autofahrer zum Beispiel nicht angeschnallt oder betrunken war. Aber auch diese Bilder müssen nach zwei, drei Tagen aus dem Kopf sein.

Gibt es eine Supervision?

Es gibt eine Einsatz-Nachbesprechung. Das ist wichtig bei Großlagen wie bei der Explosion der Chemiefabrik in Ritterhude. Ich war dort im Einsatz. Wir haben in nur 15 Minuten für mehrere Schwerverbrannte und Schwerverletzte Behandlungsplätze aufgebaut. Zum Glück gab es dann doch nur einen Schwerverletzten, der direkt nach Hannover geflogen wurde, und wir haben uns um die Leichtverletzten gekümmert. Wir können uns jederzeit an einen Notfallseelsorger wenden. Ich empfehle das auch, vor allem, wenn nach wenigen Tagen die Erinnerungen immer noch ungefragt spontan hochkommen. Eine unverarbeitete seelische Dauerbelastung kann den Menschen völlig zerstören.

Was ist mit Schaulustigen?

Ja, das wird definitiv mehr. Ich habe auch schon vor 30 Jahren erlebt, dass Leute von der Autobahnbrücke aus zuschauen, wie unten ein Motorradfahrer verbrennt. Da werde ich schon einmal laut. Ich frage die Gaffer, ob sie selbst in so einer Situation gefilmt werden wollen. Manche interessiert das nicht. Die Leute filmen mit dem Handy im Vorbeifahren und verursachen womöglich noch einen weiteren Unfall.

Wie verhält sich die Polizei dabei?

Was gut funktioniert, ist der Sichtschutz bei der Bergung von Leichen. In der ersten Phase haben wir aber gerade einmal einen Polizeiwagen vor Ort, der ist zunächst mit anderen Dingen beschäftigt. Da muss die Unfallstelle abgesichert werden. Immerhin wird das Gaffen jetzt bestraft. Ich finde, dafür müsste der Führerschein lebenslang entzogen werden.

Wie gehen Sie damit um, wenn Sie nicht helfen konnten?

Natürlich frage ich mich, ob man das Opfer hätte retten können. Dann muss man sich klarmachen, dass man derjenige ist, der versucht hat zu helfen. Vielleicht gibt es immer noch jemanden, der es hätte besser machen können, aber ,nobody is perfect'.

Wissen Sie, was aus den Patienten wird?

Ich frage häufig nach, auch zur Qualitätskontrolle. Möglicherweise habe ich tatsächlich etwas übersehen oder ich hätte etwas besser machen können. Es geht darum zu lernen – für den nächsten Patienten.

Woher nehmen Sie die Kraft?

Ich fahre gern Fahrrad, und ich segle gern. Die Natur ist mein Ausgleich. Außerdem fahre ich Motorrad, obwohl ich weiß, was da passieren kann. Allerdings fahre ich sehr defensiv.

Das Interview führte Silke Looden.

Zur Person

Zur Person: Dr. Jörn Hock ist seit 33 Jahren Rettungsmediziner, seit dem Jahr 2000 im Landkreis Osterholz. Seit 1995 lebt und arbeitet der inzwischen 63-Jährige in Lilienthal, zunächst als Chefarzt der Anästhesie in der Klinik, später dann als Schmerztherapeut mit eigener Praxis. Studiert hat Hock in Regensburg, Göttingen sowie an der Medizinischen Hochschule in Hannover.
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