Ritterhude. Eigentlich sollte der ältere Bruder seiner Mutter den Hof am Hagensfährer Weg in Ritterhude erben. „Etwa 1552 ist das Anwesen erstmals urkundlich erwähnt worden und es war immer in Familienbesitz“, erzählt Johann Seebeck. Seinen Onkel, den Hof-Erben, lernte der heute 74-Jährige jedoch nie kennen. „Er geriet unters Eis.“ Das war am Zweiten Weihnachtstag 1926. Sein Onkel wurde gerade mal 19 Jahre alt.
Der Hof der Familie Seebeck liegt an der Wümme. Ausflügler und Tagestouristen schätzen das dazugehörige Melkhus, das von Seebecks Schwiegertochter Sandra Seebeck gestartet wurde und das sie mit ihrer Schwiegermutter Anita Seebeck führt. Den landwirtschaftlichen Betrieb hat Johann Seebeck aus gesundheitlichen Gründen mit 58 Jahren an seinen Sohn Jan übergeben, sodass heute – mit den beiden Enkeln – drei Generationen unterm Hofdach leben.
Auf der Wümme geriet Johann Seebecks Onkel allerdings nicht unters Eis. Damals, so berichtet der 74-Jährige, seien die Felder noch unter Wasser gesetzt worden. „Damit Schlick drauf kam“, erklärt der Landwirt. Als Dünger. Auf so einer zugefrorenen Wasserfläche sei der 19-Jährige damals Schlittschuh gelaufen, eingebrochen und ertrunken. Dass die Felder überflutet wurden, hat Seebeck selbst nie erlebt. „Das war vor meiner Zeit.“
Die Wümme, sie taucht immer wieder in Johann Seebecks Erzählungen auf. Zwischen ihr und dem Wohnhaus liegt nur der Hagensfährer Weg. Den Deich entlang führt der gen Lilienthal. „Den gab es schon immer“, erzählt Seebeck. „Nur früher war er aus Sand.“ Wann genau der Weg befestigt wurde, kann er nicht sagen. Aber die Sturmflut 1962 habe ihm stark zugesetzt. Damals habe der Weg aus Klinker und Kopfsteinpflaster bestanden. Die Flut riss große Stücke weg. Danach wurde er geflickt und Asphalt über den Klinker gegossen. „Wir selbst haben auf dem Hof nicht viel von der Flut abbekommen“, erzählt Seebeck. Die Gebäude stehen auf einer Wurt.
Mit Heuwagen durch die Wümme
Als Johann Seebeck 1946 als letztes von fünf Kindern – die anderen Mädchen, jeweils Zwillinge – zur Welt kam, war der Krieg ein Jahr vorbei. Eine Flüchtlingsfamilie war bei ihnen untergebracht. „Der Vater war Tischler und hatte Arbeit in Bremen“, sagt er. Mit der Tochter sei er aufgewachsen. Sie hätten bis heute Kontakt. Damals, so erzählt er, habe es kein fließend Wasser bei ihnen gegeben. Nur einen Brunnen hätten sie gehabt. Aber dessen Wasser war stark eisenhaltig, fast ungenießbar.
Aus Erzählungen weiß er, dass seine Schwestern als Kleinkinder in der Wümme gewaschen wurden. „Damals war sie ja noch nicht so reißend wie heute“, sagt Johann Seebeck. Der Tidenhub war vernachlässigbar, etwa 40 Zentimeter seien es gewesen. Dann kamen die Weser-Vertiefungen. Mit jeder drückte mehr Wasser zweimal täglich ins Hinterland und damit gegen die Deiche und Häuser dahinter. „Heute beträgt der Tidenhub etwa dreieinhalb Meter“, erzählt er.
Bis Mitte der 1960er-Jahre gab es in Höhe der Hofstelle eine Fähre. Doch als das Ufer befestigt wurde, verschwand die Bucht fürs Boot, die Fährverbindung war Geschichte. Johann Seebeck holt den Stammbaum seiner Familie aus dem Nebenzimmer. Kein Heft, sondern ein gerahmtes Bild. „Es gab hier einen Hagens, der eine Fähre betrieb“, erklärt er. Arend Hagens sei das gewesen. Der erste Name ganz unten am Stamm, darauf beziehe sich der Straßenname: Hagensfährer Weg.
Die Verbindung der Familie zum Blockland sei stets enger gewesen als zum fernen Ritterhude. Und das nicht etwa, weil gegen Kriegsende die Brücken gesprengt wurden. Über die Wümme hinweg seien Ehen geschlossen worden. Auch zur Schule ging es für ihn einst mithilfe des Opas, der ihn ins Blockland übersetzte. Von dort ging es mit den Klassenkameraden nach Wasserhorst. Mit ihnen startete er später zu den ersten Mofa-Touren, bei denen er seine Frau Anita in Albstedt kennenlernte. Die Clique, erweitert um die Ehefrauen, gebe es heute noch.
Ein weiterer Grund, warum die Bindung ans Blockland so eng ist: Früher hatte der Hof auf beiden Seiten des Flusses Ländereien. 1906 wurde er unter den Erben geteilt. „Bis dahin ging es noch mit dem Heuwagen bei Niedrigwasser durch die Wümme“, erzählt Seebeck. Er selbst erinnert sich daran, dass in seiner Kindheit sein Großvater die Milch der acht bis zwölf Kühe, die damals auf der Diele standen, mit der Fähre morgens und abends übersetzte, damit sie zur Molkerei kam. „Wir konnten sie hier nicht frisch halten.“ Fror es im Winter: „ist mein Opa nach drei Tagen Frost mit der Milch übers Eis.“ War es dafür nicht kalt genug oder gab es andere Probleme, hätten sie die Milch wegschütten müssen.
Seit seiner Kindheit hat sich das Leben auf dem Hof extrem gewandelt. „Der erste Trecker kam 1957“, nennt Seebeck ein Beispiel. Die Pferde, die Kutsche und Ackerwagen gezogen hatten, wurden abgeschafft. Das erste Familienauto sei ein Goliath gewesen. Mit Ladefläche. Als er mit 16 sein erstes Mofa kaufte, hätten sie noch einen Knecht gehabt. Zwei Jahre später war auch der fort. Nachdem eine erste Wasserleitung, die unter der Wümme hindurch führte, zusammengebrochen war, wurde der Hof in den 1970er-Jahren ans Trinkwassernetz angeschlossen. „Aber Strom bekommen wir bis heute von drüben.“ Aus dem Blockland.
Als er nach seiner Landwirtschaftslehre auf den elterlichen Hof zurückkehrte, übernahm Johann Seebeck 1973 den Betrieb. Geheiratet hatten seine Frau Anita und er bereits 1971. Auf der Diele standen dann 25 statt 14 Kühe. Mit dem ersten Laufstall wuchs der Hof auf 58 Kühe. Den ehemaligen Familienbetrieb jenseits der Wümme konnte er für einige Jahre pachten, aus 58 Kühen wurden 80. „Bis heute ist Milch unser Standbein.“ Eines, das längst nicht mehr auf 320, sondern auf rund 720 Hufen steht. Seebeck freut das: „Jan hat was aus dem Hof gemacht.“