Ritterhude. Martin Ratjen war 18 Jahre alt, als er seinem Bruder Johann Hinrich nach Schottland gefolgt ist. Dieser hatte vier Jahre zuvor, mit nur 16 Jahren, den elterlichen Hof in Stubben verlassen, um sein Glück in der Fremde zu suchen. Und er hat es gefunden: zunächst in Leith bei Edinburgh, dann in Greenock. „Warum Johann Hinrich Ratjen die elterliche Hofstelle, Stubben 9, nicht übernommen hat, habe ich nicht rausfinden können; eigentlich hätte er sie erben müssen, schließlich war er der Erstgeborene“, sagt Uta Bothe. Fragen kann sie ihn nicht mehr. Er starb 66-jährig 1880 in Greenock und überlebte seinen jüngeren Bruder Martin damit um 17 Jahre.
Uta Bothe ist mit Leib und Seele Ahnenforscherin. Nachdem die Platjenwerberin ihren eigenen Wurzeln nachgespürt hat, trägt sie nun alles über die Platjenwerber und Stubbener Höfe zusammen. Auf den Internetseiten des Heimatvereins Platjenwerbe veröffentlicht sie ihr Wissen. Unterstützt wird sie dabei von Ingo Paul. Weitere Helfer wären gern gesehen, versichert sie. „Sie müssten nur neugierig sein, sich für das Leben in früheren Zeiten interessieren und bereit sein, die alte Schrift lesen zu lernen.“ Denn Ahnenforscher wie Uta Bothe arbeiten sich durch Berge von alten Kirchen- und Ortsfamilienbüchern, um an Geburts-, Tauf-, Hochzeit- und Sterbedaten zu gelangen. Aus Meierbriefen, Landmilizrollen und anderen Urkunden ziehen sie weitere Informationen zu den Hofstellen und deren Bewohnern. In einigen Fällen werden ihnen von den Nachkommen auch alte Briefwechsel überlassen, tauchen Tagebücher auf, können Geschäftsbücher eingesehen werden.
Bei dieser Recherche stieß Uta Bothe unter anderem darauf, dass zahlreiche Platjenwerber und Stubbener im 18. und 19. Jahrhundert ihrer Heimat den Rücken kehrten. „Sie hatten damals keine Zukunft hier; für sie gab es kein Weiterkommen, die Industrialisierung hatte hier noch nicht Fuß gefasst und nicht jeder von ihnen erbte eine Hofstelle oder konnte die Nachbarstochter heiraten“, erzählt sie. Und das in einer Zeit, da die Bevölkerung wuchs, die Arbeitsstellen aber nicht mehr wurden. Manche von ihnen gingen daher zur See, so wie Martin Brummerhop. „Er war zunächst Kapitän auf einem Walfänger; später wanderte er in die heutige USA aus; dort ist er verarmt in New York gestorben.“
Andere – wie die Brüder Ratjen – zog es nach Großbritannien. „Manche, reisten über England, weil für die Überfahrt nach Amerika das Geld nicht reichte.“ In Großbritannien konnten sie es sich verdienen. Vor allem Zuckerbäcker wurden dort gesucht. Mit Backwaren habe der Beruf aber nichts zu tun, sagt Bothe. „Sie waren Zuckersieder.“ Ihr Job war es, den Zucker aus Zuckerrüben zu gewinnen. „Wegen der Kontinentalsperre, die Napoleon 1806 verhängt hatte, kamen keine Waren mehr aus Übersee nach Europa; den Briten ging der Zucker aus, den sie bis dahin aus ihren Kolonien bezogen hatten.“
Bei ihrer Forschung stieß Bothe schließlich auf den Artikel „Kaufleute und Zuckerbäcker“ von Margrit Schulte Beerbühl und Horst Rössler. Darin heißt es, dass um 1850 etwa 1200 Menschen in London in der Zuckerindustrie gearbeitet hatten. „Davon sollen mehr als 1000 aus dem Königreich Hannover gekommen sein.“ Rössler und Schulte Beerbühl nennen das Elbe-Weser-Dreieck als wichtigsten Abwanderungsraum in die Zuckerindustrie nach London. Vielleicht stellten Großbritannien und die Zucker-Industrie auch deshalb eine Option für die beiden Stubbener dar, weil ein jüngerer Bruder ihres Vaters um 1800 herum dorthin ausgewandert war. „Dieser Carsten Ratjen ist aber schon 1804 mit 19 Jahren in der Themse ertrunken“, erzählt Bothe.

Heimatvereins-Archivarin Uta Bothe weiß von den Zuckerbäckern von Platjenwerbe zu berichten.
Auf der Suche nach Informationen zum Schicksal der Ratjens hat Uta Bothe nun Kontakt zu Johann Hinrich Ratjens Ur-Enkel Ian Rathjen aufgenommen. Er ist wie Bothe ein passionierter Ahnenforscher. Er vermutet, dass sein Ur-Großvater Henry, wie Hinrich Ratjen in Schottland genannt wurde, durch Kontakte zu einer Familie Schultze nach Leith gekommen war. Diese Familie betrieb dort eine Zuckerraffinerie und stellte den Stubbener direkt als Manager ein. Völlig unklar ist beiden Ahnenforschern, woher der junge Mann aus Stubben das dafür nötige Wissen hatte. Zwar gab es bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts einen Lehrer in Platjenwerbe. Aber vom Zuckersieden dürfte er nichts gewusst haben. Noch in Leith heiratete Henry 1835 – fünf Jahre nach dem Abschied von Stubben – die Schottin Anne Stratton. In Greenock, wo erst er und später auch Martin Ratjen landeten, war es wieder ein Landsmann, der die Zuckerraffinerie betrieb: Lür Wrede aus Uthlede. Nach ihm habe sein Ur-Großvater auch seinen Sohn Lear Wrede benannt. Er ist Ian Rathjens Großvater.
Erbschaftsrätsel ungelöst
Der Kontakt zu dem in Schottland lebenden Ian Rathjen hat Uta Bothe neue Informationen geliefert. Die Frage, warum der erstgeborene Johann Hinrich Ratjen überhaupt auswanderte, statt sein Erbe anzutreten, konnte aber auch sein Ur-Enkel nicht beantworten. Sowohl er als auch Bothe vermuten, dass es damit zu tun hat, dass Hinrichs Vater ein zweites Mal heiratete und dann 1829 starb. Die Stiefmutter selbst heiratete 1830 erneut. Übernommen wurde der Hof schließlich vom ersten Sohn aus dieser zweiten Ehe – Johann Hinrich Ratjens Halbbruder. Allerdings war es ein belastetes Erbe, wie Bothe entdeckt hat: „Seit 1813 war der Hof mit einer Hypothek von 1000 Reichsthalern belastet. Erst 1877 wurde die Hypothek gelöscht.“
Infos zu den Höfen in Platjenwerbe und Stubben sind unter www.heimatverein-platjenwerbe.de zu finden. Wer sich für das Archiv und die Ahnenforschung interessiert, erreicht Uta Bothe unter 04 21 / 6 36 14 31.