Worpswede/Landkreis Osterholz. Unglücke kommen immer zur Unzeit, Krankheiten meist auch. Was für Menschen gilt, ist bei den Tieren nicht anders. Wenn es Katze oder Hund, Hase oder Sittich nachts oder am Wochenende plötzlich schlecht geht, dann stehen die Halter im Landkreis Osterholz regelmäßig vor großen Problemen, denn einen tierärztlichen Notdienst außerhalb der Praxisöffnungszeiten gibt es bislang nicht. Vereinzelt sprechen sich Kollegen ab und sind auch außerhalb der Kernzeiten telefonisch erreichbar. Ansonsten bleiben nur die Tierkliniken in Sottrum oder Posthausen, die aber auch oft ausgelastet sind und Fälle abweisen. Dieser Misere wollen zahlreiche Osterholzer Tierärzte mit einer kreisweiten Notrufnummer nun begegnen.
Hauke Brandenburger ist Tierarzt mit Haut und Haar, manchmal braucht er aber eher ein dickes Fell. "Es gibt Wochen, da werde ich jeden zweiten Abend oder nachts und am Wochenende angerufen", erzählt der Worpsweder, der zurzeit geschäftsführender Kreisvorsitzende der niedersächsischen Tierärztekammer ist. Bei ihm kommt vieles zusammen, was für seinen Beruf typisch ist: Er versorgt Klein- und Großtiere, ist also auch dann gefragt, wenn mitten in der Nacht eine Kuh kalbt und es Komplikationen gibt. Das aber sei nicht das größte Problem, berichtet er, durch Forschung sei die Zucht so weit verbessert worden, dass schwere Geburten heute selten geworden seien. Mehr Arbeit bereiten die Kleintiere, deren Zahl – noch einmal befeuert in der Pandemie – stark zugenommen habe. Gleichzeitig seien die Ansprüche der Tierhalter gestiegen, aber auch die tiermedizinische Entwicklung gehe immer weiter, sodass es kaum noch den "Allrounder" unter den Veterinären gebe. "Immer mehr Kollegen spezialisieren sich, und keiner kann sich eine Praxis leisten, die mit allen heute verfügbaren Geräten ausgestattet ist", sagt Brandenburger.
Branche mit Nachwuchsproblem
Und noch etwas macht das Leben der Landtierärzte schwer: Wie die Hausärzte haben auch sie massive Nachwuchsprobleme, die Branche ist überaltert. Es gebe Kollegen, die würden ihre Praxen kostenlos abgeben, wenn sie nur eine Nachfolge fänden, weiß Brandenburger als Vertreter seiner Zunft. Sein Kompagnon hat vor drei Jahren die Worpsweder Praxis verlassen, seitdem ist er Einzelkämpfer. "Ich mache meinen Beruf immer noch gerne, und es ist mir lieber, ich habe hier eine 50- oder 60-Stunden Woche als einen Job, der mir keinen Spaß macht", sagt er mit großer Überzeugungskraft. Aber es brauche Entlastung.
Inwiefern sich die neue Notfallnummer, die ab 6. November verfügbar ist, dann positiv auswirke, bleibt abzuwarten. Sie ist zunächst nur am Wochenende und feiertags geschaltet. Unter 04792/ 98 77 844 erfahren Anrufer dann, welcher Arzt gerade Notdienst hat und bekommen dessen Telefonnummer genannt. Neun Praxen aus dem gesamten Landkreis beteiligen sich an dieser Initiative, die die Ärzte in Eigenregie organisieren, als zehnte soll das neue Tiergesundheitszentrum in Schwanewede nach seiner Eröffnung dazukommen. Nur zwei Praxen, eine in Lilienthal und eine weitere in Schwanewede, machen nicht mit. Unter der Woche müssen Frauchen und Herrchen weiterhin darauf setzen, dass "ihr" Tierarzt auch außerhalb der Sprechzeiten ans Telefon geht. Bei vielen aber laufen Ansagen, die an Tierkliniken verweisen.
Überlastete Kliniken
Es gibt zwar eine gesetzliche Verpflichtung, in jedem Landkreis einen Notdienst für Vierbeiner, Federvieh und andere tierische Wesen vorzuhalten, die Umsetzung dessen aber obliegt den örtlichen Praxen. Bislang hatte der Landkreis Osterholz einen Vertrag mit der Tierklinik Posthausen, diesen zu übernehmen, der aber sei ausgelaufen. Auch darin sieht Hauke Brandenburger ein Problem, das den Nachwuchs abschreckt: Ständige Rufbereitschaft, weite Wege in oft entlegene Gebiete – da winken auch ambitionierte Neulinge schnell ab. Und das in einem Beruf, der in der Ausbildung eine über 90-prozentige Frauenquote aufweist, wie der Worpsweder betont: "Da sind eben eher Teilzeitjobs und feste Arbeitszeiten wie etwa in den Kleintierpraxen in den Städten gefragt." Aber auch die Kliniken hätten Probleme, ihrer Verpflichtung, sieben Tage die Woche 24 Stunden bereitzustehen, nachzukommen. Brandenburger: "Die Auslastung ist hoch, und sobald alle stationären Plätze belegt sind, werden Anrufer eben abgewiesen, es sei denn, sie schildern wirklich akute Notfälle. Manche Kliniken haben aber auch schon ihre Zulassung zurückgegeben, um aus der Verpflichtung raus zu kommen."
Die neue Notfallnummer betrachten die beteiligten Tierärzte als ein Experiment. Sie wollen sich gegenseitig entlasten und den Tierhaltern eine verlässliche Versorgung garantieren. Ob das funktioniert, müsse die Erfahrung zeigen. "Natürlich schlafe ich auch nachts lieber durch", sagt Hauke Brandenburger, "aber wenn ein Tier in Not ist, dann stehe ich eben auf und fahre hin."