Worpswede. Jetzt, im Frühherbst, wenn die Landschaft am Morgen wieder von einer dünnen Schicht Nebel eingehüllt wird, erscheint auf dem Weyerberg in Worpswede die Silhouette des Niedersachsensteins mächtig und düster. Weicht das Grau dem Licht, bleibt ein Eindruck von Masse und Monumentalität. Der Ziegelkoloss steht am Westhang des Hügels und breitet seine Schwingen gen Osten aus. Er ist oft als Vogel, als Adler interpretiert worden. Zumal sein Schöpfer, der Bildhauer Bernhard Hoetger, ihn auch selbst so beschrieb: „Ein Vogel, der die Flügel ausbreitet und sich zur Sonne erhebt.“ Und dies seit 1922, seit hundert Jahren also.
Bernhard Hoetger ging es bei seiner Idee um die „Gestaltung seines Gefühls“ in der Zeit nach dem Krieg, der dem noch jungen 20. Jahrhundert Tod und Chaos gebracht hatte, und in der die Menschen erfüllt waren von Sehnsucht nach Frieden und Aufbau. Doch dieses Konzept war nicht von Anfang an geplant gewesen. Eigentlich sollte Bismarck auf den Sockel gehoben werden, berichtet Hans Ganten, der frühere Vorsitzende der Stiftung Worpswede. Noch vor Kriegsbeginn hatten sich der Verschönerungs- und der Kriegerverein des Dorfes auf ein solches Denkmal geeinigt. „Die Kunstkritik streitet nach wie vor über die expressionistischen Ausdrucksformen der Hoetgerschen Arbeit“, so Ganten. „Wer Hoetger allerdings vorwirft, mit dem Niedersachsenstein vor allem nationale Euphorie ausgedrückt zu haben, dem kann entgegengehalten werden: Hoetgers (wohl) vorletzter Entwurf für das Denkmal hatte sich noch merklich von der dann realisierten Endfassung unterschieden.“

Hans Ganten
Doch der Verlauf des Krieges mobilisierte das Nationalgefühl der Mitglieder – allen voran das des Malers Fritz Mackensen –, und so sollte dann ein Kriegerehrenmal daraus werden, ein „Siegesmal im Heldenhain“. Zu dem Zeitpunkt ging man noch von einem Sieg der Deutschen aus. Bereits im Herbst 1915 bewilligte der Verschönerungsverein für die Anlage des Hains 300 Mark. Für das Denkmal konnte auf Empfehlung von Mackensen der in Worpswede ansässig gewordene Bildhauer Bernhard Hoetger gewonnen werden. Wichtigste Vereinbarung zwischen den Parteien war, dass Hoetger absolute künstlerische Freiheit zugestanden werden sollte. „Ein erster Entwurf, noch im selben Jahr von Hoetger vorgelegt, zeigte eine kleine, etwa drei Meter hohe, dem Licht entgegen schwebende Jünglingsgestalt mit einer Rückwand, die an übergroße Flügel erinnerte“, so Ganten. Den Platz für dieses Kriegerehrenmal stifteten die Großbauern, die Hoetgers ersten Entwurf einstimmig annahmen.
Streit um Entwurf
Im Jahre 1916 wurden die Arbeiten mit Handwerkern aus der Gegend aufgenommen, Geld dafür war durch einen Spendenaufruf zusammengekommen. Doch der weitere Verlauf des Krieges ließ die Arbeiten ins Stocken geraten, das unermessliche Leid der Soldaten wurde unüberhörbar. Hoetger versuchte, den Entwurf mit neuen, erweiternden Gedanken anzupassen, und ein Denkmal für die Gefallenen zu entwickeln. Die Jünglingsgestalt wuchs in eine Höhe von acht Metern, schließlich gab er das Motiv auf und an dessen Stelle trat ein Vogel.

Im vergangenen Juli wurde ein Bauradarverfahren am Denkmal durchgeführt, um die Konstruktion zu untersuchen.
Aber das Denkmal wuchs weiter, mit 18 Metern Höhe und 14 Metern Breite hatte es schließlich wuchtige Ausmaße angenommen. Dieser Entwurf traf auf Widerstand, auch bei Fritz Mackensen. Es kam zu erbitterten Streitigkeiten, die sich über Jahre hinzogen, und in Rufen wie „Nie der Sachsenstein“ oder „Nieder Sachsenstein“ mündeten. Eines der Argumente der Gegner war, dass die Landschaft mit solch einem Steinkoloss verschandelt würde.
Schließlich erließ die Stader Regierung einen Baustopp. Aber viele Befürworter des Gedenksteins meldeten sich zu Wort. So auch namhafte Persönlichkeiten wie der Bauhausgründer Walter Gropius oder der Architekt Peter Behrens. Schließlich konnten die Bauarbeiten weitergeführt werden, woraufhin der fertige Niedersachsenstein im September 1922 eingeweiht wurde.
"Man wird heute sagen dürfen, dass der Künstler mit dem Niedersachsenstein keine ‚Heldenverehrung‘, sondern ein Mahnmal des Erschreckens und der Trauer über das Leid durch den Krieg schaffen wollte“, ist sich Hans Ganten sicher. Seiner Meinung nach hat Hoetger ein zeitloses Monument geschaffen, dessen Form und Darstellung heutigem Stilempfinden vielleicht nicht mehr entsprechen mag, aber mit seiner historischen Wahrheit doch akzeptiert werden kann. „Man kann von Glück reden, dass der Niedersachsenstein nicht auch dem irrationalen Treiben der NS-Regierung zum Opfer gefallen ist“, so Ganten.