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17-Jähriger hat sechsmonatige Flucht hinter sich / Praktikum in Borgfeld verschafft ihm eine neue Perspektive „Jetzt bin ich hier - ich muss es schaffen“

Borgfeld. Ali Alizadeh sitzt vor einem blau flackernden Bildschirm. Der 17-Jährige spreizt seine Finger und führt die Kuppen zusammen.
23.01.2016, 00:00 Uhr
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Von Petra Scheller

Ali Alizadeh sitzt vor einem blau flackernden Bildschirm. Der 17-Jährige spreizt seine Finger und führt die Kuppen zusammen. Mit voller Konzentration widmet sich der gebürtige Afghane einem Bremer Computerproblem. Geduldig schaltet er den Rechner aus. Dann wieder ein. In den lichten Büroräumen eines kleinen Computerservices für mittelständische Unternehmen kann Alizadeh kurzzeitig abschalten. Vom Alltag in der Borgfelder Turnhalle, in der er seit knapp drei Monaten mit anderen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen lebt. Von den Bildern der sechs Monate langen Flucht. Von der Sehnsucht nach seiner Familie, die zur Zeit im Iran lebt. Ab und zu telefoniert er mit seiner Mutter.

Ali Alizadeh senkt den Blick und schweigt für einen Moment. Geduldig vertieft er sich jetzt in abstrakte Zeichen und Befehle, installiert Betriebssysteme und Officepakete. Essenzielle Sorgen verschwinden so zumindest für ein paar Stunden. „Try and Error“, sagt Alizadeh und lächelt beinahe.

Ortswechsel: „Bremen ist bunt! Wir leben Vielfalt!“, steht auf einem Sticker, der auf einem Briefkasten vor einem Borgfelder Einfamilienhaus klebt. Hier wohnt Alizadehs Chef, Alexander Keil. Inzwischen sind der 51-Jährige Bremer und der gebürtige Afghane gute Kollegen. Sie bilden eine Fahrgemeinschaft und joggen mehrmals in der Woche durch die Wümmewiesen. Ein Glücksfall. „Für beide“, fügt der diplomierte Betriebswirt Alexander Keil hinzu. „Die Jugend ist unser Kapital. Sie muss die Möglichkeit haben, sich zu entwickeln. Es ist unsere gesellschaftliche Aufgabe Jugendliche zu integrieren, wenn sie sich anstrengen.“

Ali Alizadeh strengt sich an. Als Siebenjähriger zog er mit seiner Familie vom afghanischen Herat in den Iran, nach Maschhad. Die Metropole mit ihren 2,5 Millionen Einwohnern gilt als eine der sieben heiligen Stätten des schiitischen Islams. Jährlich besuchen dort mehr als 100 000 schiitische Pilger das religiöse Zentrum, die Gouharschad-Moschee. Alizadeh ist aus religiösen Gründen von dort geflohen. Er spricht Arabisch, Persisch, Englisch und lernt gerade Deutsch. Er hofft wie viele andere Jugendliche aus seinem Heimatland auf ein besseres Leben in Europa.

Sein 32 Jahre alter Bruder verließ Maschhad bereits vor drei Jahren und landete schließlich in Bremen, das erzählt der Praktikant, während er unermüdlich Updates auf Kundenrechner spielt. Ali Alizadeh versuchte sein Glück zunächst in der Türkei. „Ich wollte in Istanbul studieren. Irgendetwas mit IT“. Doch das Geld ging schnell aus. Gemeinsam mit einem Freund arbeitete der 17-Jährige auf einer Farm in Bulgarien an der Grenze zur Türkei, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Zwölf Stunden durch den Schnee

„16 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.“ Einen Monat lang hielten die Jugendlichen durch. Dann machten sie sich auf den Weg nach Ankara. Ali Alizadeh unterbricht sich selbst und schiebt die Tastatur neben dem Rechner zur Seite. Sein Blick schweift in die Ferne. Eigentlich wollten wir uns treffen, damit er von seinem Praktikum erzählt. Doch die Erinnerung an seine Flucht scheint in diesem Moment so präsent, dass er davon berichten möchte.

„Wir gingen zwölf Stunden lang durch den Schnee – zu Fuß.“ Wann sie genau losgingen? „Weiß ich nicht mehr.“ Tage, Wochen, Monate. Auf der Flucht habe er sein Gefühl für Zeit verloren. Irgendwann landeten sie in Istanbul und arbeiteten zwei Monate in einer Kleiderfabrik. Ein Freund riet ihnen, nach Griechenland zu gehen. Ziel war die Insel Lesbos. Nur zehn Kilometer liegen zwischen der Inselhauptstadt Mitilini und der Türkei, daran erinnert sich Alizadeh. An klaren Tagen könne man von Lesbos aus die Minarette im Osten sehen.

Auf einem Acht-Meter-Außenboarder heuern die Freunde an. Bedingung: Alizadeh soll das Boot fahren. Rund 40 Leute sind an Bord. „Ich wollte nicht steuern, aber ich musste“, sagt er. Nach dem Start dreht sich der Kahn im Kreis. Ein erfahrener Bootsmann kommt zu Hilfe. Die Flüchtlinge erreichen ihr Ziel. In einem Camp bleiben sie zwei Wochen. Dann geht es weiter nach Athen. Eine Woche übernachten sie in Parks. Irgendwann schlagen sie sich bis zur mazedonischen Grenze durch. Serbien. Ungarn.

An diesem Punkt der Flucht sehnt sich Ali Alizadeh zurück nach Hause. Sechs Monate sind die Freunde inzwischen unterwegs. Der Weg führt weiter nach Wien. Dort werden sie von der Polizei in einen Zug nach München gesetzt. An dieser Stelle trennen sich die Wege von Alizadeh und seinem Freund. Der will in München bleiben, weil er dort Leute kennt.

Alizadehs Ziel heißt Bremen, um seinen Bruder zu treffen, den er seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hat. „Eine Frau hat mir am Münchener Bahnhof ihre SIM-Karte gegeben, so konnte ich meine Mutter informieren“, erinnert sich der 17-Jährige. Doch zunächst folgte eine turbulente Nacht in einem Münchener Krankenhaus, aus dem Alizadeh spontan floh. „Diagnose: Hautausschlag.“ Sein Busticket nach Bremen hatte er bereits in der Tasche. „Ich musste den Bus bekommen“, sagt er. Erste Anlaufstelle war die Wohnung seines Bruders in Bremen-Gröpelingen.

Nun lebt er seit knapp vier Monaten in Borgfeld. Ganz in der Nähe des Einfamilienhauses von Alexander Keil, der sich ehrenamtlich als sozialdemokratischer Ausschuss-Sprecher für Bildung und Soziales, Sport und Kultur im Stadtteil engagiert. Die beiden lernen sich im Café International im Borgfelder Jugendfreizeitheim kennen und schmieden Pläne. Dreimal in der Woche ist Alizadeh fest als Assistent im Computerserviceunternehmen eingebunden. „Anschließend versuche ich ihn in einem anderen Unternehmen unterzubringen“, sagt Alexander Keil. Kontinuität sei etwas, wovon Alizadeh momentan am meisten profitiere.

In Kürze allerdings wird sich sein Wohnort erneut verändern. Die Sporthalle am Saatland steht dann nicht mehr als Flüchtlingsunterkunft bereit. Wie es weiter gehe sei noch unklar, sagt Alizadeh. Er hoffe, dass sein Praktikum ihm irgendwie weiterhelfe. Jeden Nachmittag um drei lernt der 17-Jährige Deutsch. Es sei hart, aber wenn er sich das wieder und wieder sage, sei es noch härter. „I have to say, it is easy“, unterstreicht Alizadeh und lächelt.

„Die Zahl junger Menschen, die ins Wartezimmer der modernen Welt verbannt sind, ist in den letzten Jahrzehnten exponentiell gewachsen“, schrieb Pankaj Mishra in der deutschen Ausgabe der internationalen Kulturzeitschrift Lettre im Herbst vergangenen Jahres. Das Blatt liegt im Foyer vor dem Büro Alexander Keils. Seine kleine Firma teilt sich die Räume mit einem Unternehmen, das recyclebare Verpackungsmaterialien vertreibt. Zwei Leute dort sprechen fließend Arabisch.

„Kriege und Verfolgung haben 60 Millionen Menschen heimatlos gemacht, so viele wie noch nie“, heißt es in dem Artikel in Lettre weiter. Auch Ali Alizadeh hat sich aus seiner Heimat in der Hoffnung auf ein besseres Leben auf den Weg gemacht. „Jetzt bin ich endlich hier. Ich muss es irgendwie schaffen“, sagt der Praktikant aus Borgfeld.

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