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Teilhabe und Förderbedarf Begleitung ersatzlos gestrichen

Nach dem Wechsel seines behinderten Sohnes an die Klosterplatz-Schule kämpft Nils Gerken gegen den Wegfall der Schulassistenz. Der Landkreis Osterholz hat Zweifel am Bedarf.
19.09.2021, 16:18 Uhr
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Begleitung ersatzlos gestrichen
Von Bernhard Komesker

Landkreis Osterholz. Der Brief aus dem Kreishaus kam mitten im Urlaub. Lörtz Gerken war gerade verreist. Anfang August informierte die Osterholzer Fachstelle Teilhabe den Kreisstädter darüber, dass der im April bewilligte Bedarf einer Schulassistenz für Gerkens Sohn Nils neu geprüft werden müsse. Der 13-Jährige hat das Down-Syndrom, eine geistige Behinderung, und besuchte zuletzt an der IGS in Grasberg eine Kooperationsklasse der Förderschule am Klosterplatz. An der Seite von Gerkens Sohn war dort schon seit geraumer Zeit eine Schulbegleiterin der Lebenshilfe tätig. Mit dem Landkreis-Schreiben erfuhr Gerken, durch den Wechsel seines Sohnes in die achte Klasse zum Klosterplatz sei es nötig, die Unterstützungsstunden neu festzustellen. Er könne dazu bis Freitag, 20. August, Stellung nehmen.

Der alleinerziehende Vater fiel aus allen Wolken. „Eine verdammt knappe Frist“, ärgert er sich. Der Wechsel stehe doch lange fest, da in Grasberg immer alle Schüler nach der siebten Klasse abgehen. Für Nils bestand demnach die Wahl zwischen der IGS Lilienthal und dem Klosterplatz, wo das Förderzentrum aller Koop-Klassen im Kreisgebiet angesiedelt ist. Nun melde sich der Landkreis mit vollendeten Tatsachen ausgerechnet mitten in der Ferienzeit. Der Brief habe wohl an die zwei Wochen ungeöffnet im Kasten gelegen. Auch inhaltlich sei das Ganze fragwürdig: Gerade so eine Übergangsphase erfordere doch eine Begleitung, und die war noch vor wenigen Monaten neu festgestellt worden.

Kein Selbstgänger

Erst nach dem Fristablauf, die letzte volle Ferienwoche hatte schon begonnen, konnte sich der konsternierte Urlaubsrückkehrer telefonisch bei der Fachstelle melden. Die Sachbearbeiterin habe aber nur bekräftigt, das Ganze sei nun mal kein Selbstgänger; der pädagogische Bedarf müsse im neuen Schuljahr zunächst erneut geprüft werden und man werde sich melden. Seither herrschte erst mal drei Wochen lang Funkstille.

Lörtz Gerken führt das darauf zurück, dass er am Telefon zunächst wenig freundlich aufgetreten sei und anschließend einen Brandbrief an die Kreisverwaltung, die Klosterplatz-Schule und die Lebenshilfe Osterholz geschrieben habe. Dabei sei er kein Einzelfall: „Drei Klassenkameraden von Nils hängen jetzt genauso plötzlich in der Luft.“ Und auch diese Schüler sind anscheinend nur die Spitze des Eisbergs. Der Vater hat erfahren, dass der Kooperationsklasse an der Grundschule Ritterhude ebenfalls Assistenzen für die Erstklässler fehlen: Statt Unterricht nur Pflege und Beaufsichtigung.

Verlust wiegt schwer

Der Kreisstädter empfindet jeden Tag ohne Schulbegleitung als einen verlorenen Tag. Er hat sich erkundigt: Nils‘ bisherige Assistentin ist längst anderweitig beschäftigt. Sie sei im Schulalltag eine riesige Hilfe gewesen und ermöglichte es, dass sein Sohn dem Unterricht folgen konnte. „Die beiden kamen super miteinander zurecht.“ Bei seinem Sohn ging und geht es nicht zuletzt auch um nötige Hilfen bei der Impulskontrolle: „Das macht mir wirklich Magenschmerzen“, bekräftigt Gerken sorgenvoll und setzt hinzu: „Mit der Pubertät stehen Fremdgefährdung und Eigengefährdung jetzt noch mal ganz anders im Vordergrund.“

Auch ärztliche Gutachten, die er dazu vorgelegt habe, machten beim Landkreis offenbar wenig Eindruck. Dort setze man zunächst auf eigenes pädagogisches Fachpersonal. Eltern wie Kinder stünden dadurch nun ziemlich alleine da; sie würden von der Fachstelle Teilhabe vollkommen im Stich gelassen, sagt der Vater. Offensichtlich werde nun der Schwarze Peter hinsichtlich einer Anzeige des Schulwechsels, der in Wahrheit ja nur ein Standortwechsel sei, hin und her geschoben. Das sei für ihn aber sekundär. Gerken findet, die Behörde sollte fürsorglicher agieren und sich aktiv um Untersuchung und Versorgung der Förderschüler kümmern. „Das darf sich nicht wiederholen, dass hier über die Kinder hinweg vom Schreibtisch aus entschieden wird und dass dann wochenlang nichts passiert.“

"Zwischenlösung nötig"

Nachdem wir die Kreisverwaltung um Auskunft gebeten hatten, schickte die Behörde eine Gutachterin eilends  zu einer Unterrichtshospitation an den Klosterplatz. Sechs Tage nach unserer Anfrage schrieb die Behörde: „Herr Gerken hat einen aktuellen Bewilligungsbescheid für seinen Sohn über eine Schulassistenz.“ Nicht jedes Kind mit einem Down-Syndrom habe aber automatisch einen Anspruch darauf. Vielmehr müsse der Bedarf individuell überprüft werden und auch Rahmenbedingungen wie Schulform und -ausstattung spielten eine Rolle. Wenn ein Standortwechsel erst in den Ferien im Kreishaus bekannt werde, müssten Schule und Fachstelle zunächst eine Zwischenlösung finden.

Der Landkreis wolle vor allem die Inklusion an den Regelschulen voranbringen, teilt die Verwaltung weiter mit. „Ein Ziel der Teilhabeplanung ist es immer, die größtmögliche Selbstständigkeit des betroffenen Kindes zu fördern und gegebenenfalls durch passgenaue Unterstützung weiter zu entwickeln.“ Bei Lörtz und Nils Gerken ist von dieser Unterstützung bisher nichts zu spüren. Die Lebenshilfe teilte ihm zwischenzeitlich mit, eine Mitarbeiterin der Lebenshilfe werde sich am Wochenende vorstellen; schriftlich aber hat der Vater weiterhin nichts in der Hand.

Zur Sache

Personalschlüssel und Personalmangel

Ob Inklusion oder Kooperation: Schulbegleitungen kümmern sich im Regelschulbereich um pflegerische Aufgaben und um alltägliche Hilfestellung. Doch an Förderzentren oder Förderschulen ist das eine zweischneidige Sache. Lebenspraktische Dinge wie Essen und Trinken, Toilettengang, An- und Auskleiden sind dort sozusagen Bestandteil des Lehrplans. Städtetag und Landkreistag warnen in einer "Orientierungshilfe zur Schulbegleitung" aus dem Jahre 2019 die Schulträger kaum verhohlen davor, den Ländern diese Aufgabe abzunehmen, die für die Einstellung von Lehrern und Erziehern zuständig sind.

Die Länder wiederum klagen darüber, dass der Arbeitsmarkt gar nicht genügend Sonderpädagogen hergebe. Währenddessen steigt der Bedarf: Im Landkreis Osterholz hat sich die Anzahl der Schüler, die von einer Schulassistenz begleitet werden, von 2015 bis 2020 um rund 70 auf insgesamt rund 170 erhöht, teilt Verwaltungssprecherin Jana Lindemann auf Anfrage mit. Das hat damit zu tun, dass immer mehr Kinder mit Förderbedarf eine Regelschule besuchen.

"Grundsätzlich sind die Förderschulen landesseitig so aufgestellt, dass sie selbst mit eigenem Personal die ihnen anvertrauten Schüler mit Handicap unterrichten und versorgen können", erklärt Lindemann dazu. Sie verweist darauf, dass die Klassengröße an der Förderschule maximal sieben Schüler betrage. Die Orientierungshilfe ist da deutlicher: Das Lernen dürfe nicht zu erwachsenenzentriert werden, heißt es warnend: "Selbstmotivierende Lernprozesse und kooperatives Arbeiten der Schüler untereinander sind zumindest gefährdet."

Der Fall von Lörtz Gerken und seinem Sohn Nils hat nach Einschätzung von Beobachtern damit am Ende nicht nur eine politisch-ethische Dimension - was sind die besten Lernbedingungen für ein behindertes Kind -, sondern auch eine juristische: Handelt es sich um einen Schulwechsel auf eine Förderschule oder nur um einen Standortwechsel? Die Landkreis-Auskunft bleibt da ungefähr: Beides könne sich "erheblich auf den individuellen Bedarf auswirken" und sei somit "bei der Bedarfsermittlung selbstverständlich zu berücksichtigen".

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