Freitagmorgen auf einem Acker in Scheeßel: Die Sonne brennt schon leicht auf der Haut, aus dem Osten weht der Wind Bässe und Stimmenwirrwarr auf den ansonsten recht ruhigen Campingplatz. Das Hurricane-Festival wacht allmählich auf und macht sich für den ersten Tag frisch. Auf den Bühnen beginnt der Soundcheck, Zeit für einen Stimmungscheck im Special Needs Camp. Der Veranstalter FKP Scorpio schreibt sich bei seinen Festivals Barrierefreiheit auf die Fahne. Doch wie gut gelingt das?
Unter einem Pavillon beginnen Lars Greiwe und seine Kumpels Lennert Seele und Marius Schramm den Tag. Lars sitzt in seinem Rollstuhl. "Da ist die Festivalbereifung drauf", sagt er und deutet auf die Reifen mit Profil, wie man sie von Mountainbikes kennt. Er ist zum vierten Mal aus Rheine in den Landkreis Rotenburg gereist. "Es gibt Höhen und Tiefen", meint der 26-jährige Musikfan mit Blick auf die Barrierefreiheit auf dem Festivalgelände.
Campingplatz auf Ackerboden sorgt für Herausforderungen
Damit ist nicht nur der Boden gemeint. Auf dem zum Campingplatz umfunktionierten Acker misst das Gras Knöchel- bis Wadenhöhe, Reifenabdrücke von den Traktoren sind stellenweise noch sichtbar. Nur auf den von den Autos und Campern platt gefahrenen Wegen geht es besser voran. "Noch besser wären Platten oder Holzbretter", meint er. Lars lässt sich nicht gerne schieben. Die drei Mittzwanziger schmunzeln wissend. Hilfe von seinen Begleitern nimmt er nur im Ausnahmefall an. "Das war echt ein Kampf, als wir dich letztes Jahr mit dem Rollstuhl durch den Matsch ziehen mussten. Ich habe mich fast waagerecht dagegengestemmt, damit ich dich schieben konnte", erinnert sich Lennert. "Das war nicht mein Kampf", sagt Lars – die Männerrunde lacht.
Direkt am Eingang zum Camp für Menschen mit Behinderung hat Lena Richter aus Paderborn ihre Zelte mit Schwester Lara und Freundin Desiree Kleffner aufgeschlagen. Die Sonnenbrille ist hier nicht nur wegen des blendenden Sommerwetters nötig, wird mit einem sympathischen Grinsen erklärt. Erfahrungen mit Matsch gibt es hier auch. Desiree berichtet: "Vom Schieben hat man dann Muskelkater in den Unterarmen." Gegen den Kater hilft allerdings keine Sonnenbrille. "Dafür Elektrolyte", weiß Lara. Auch die Rasenproblematik ist hier schon negativ aufgefallen. "Das Gras ist höher als gedacht", meint Lena.

Sehen (trotz Sonnenbrille) Verbesserungen bei der Barrierefreiheit auf dem Hurricane: Lena Richter (vorne), ihre Schwester Lara (rechts) und Freundin Desiree Kleffner.
Dass knöchelhohes Schilf eine Hürde sein kann, wird ein paar Meter weiter deutlich. Dort rödelt Jan Sadler gerade in einer Tasche in seinem Zelt. Anders als Lena und Lars ist er in diesem Jahr ohne Begleitung auf dem Hurricane, die ihm bei den Unwägbarkeiten des Geländes helfen kann. "Die ersten paar Meter dachte ich Uiuiuiu, das kann was werden. Dann klemmte auch noch die Tür im Duschcontainer, als ich raus wollte." Allerdings seien die Menschen hier hilfsbereit, zudem helfen Festivalguides bei allem weiter. Jan ist ein Festival-Kenner: Rock am Ring, Deichbrand und das Full Force hat er bereits besucht. Auf dem Deichbrand lägen beispielsweise Holzbretter auf dem Boden, damit es im Rolli mit weniger Kraftaufwand vorangeht. "Setz dich mal in meinen Rollstuhl, dann merkst du, wie schwer es ist. Wenn du es einmal um mein Zelt schaffst, gebe ich dir ein Radler aus", sagt der 31-Jährige, der seit Geburt eine Spina Bifida hat, eine Spaltung der Wirbelsäule. Perspektivwechsel angenommen: Sadler auf den Campingstuhl, Reporter auf den Rolli. Der Untergrund ist borstig und trocken von der Sonne. Die Räder drehen immer wieder durch, nur mit viel Kraft kommt man voran. Es braucht Geschick, um vorwärtszukommen.
"Man muss sich dann ein wenig zurücklehnen, den Rollstuhl balancieren und mit dem Körper arbeiten", erklärt der Nationalspieler der deutschen Para-Basketball-Nationalmannschaft. Nach einem Festivalwochenende habe der Leistungssportler ein Belastungslevel von zwei Trainingseinheiten erreicht. "Natürlich ist so ein Festivalbesuch eine körperliche Belastung. Aber es ist eine Belastung, die ich gerne auf mich nehme. Sonst wäre ich auch nicht wieder hergekommen." Er wünschte sich, dass auch der Veranstalter mal fünf Meter mit dem Rollstuhl über das Gelände fährt. Der Selbstversuch des Reporters endet nach nicht mal einem Meter, das Radler bleibt in der Einkaufstasche. Dafür gönnt sich Jan erst mal einen Energy-Drink: "Der nächste Nationalmannschaftslehrgang steht bald wieder an, da muss die Vorbereitung stimmen."

Lädt zum Perspektivwechsel ein: Para-Basketballer Jan Sadler.
In diesem Jahr ist es der staubige Lehmboden, der Probleme bereitet. "Da blockieren die Vorderräder", berichtet Lars Greiwe, "Ich habe extra ein Vorsatzrad für 600 Euro gekauft, um besser mit dem Untergrund zurechtzukommen." Wer mit den Menschen im Special Needs Camp ins Gespräch kommt, hört viel konstruktive Kritik. Sie reden mit freundlicher Miene über die Barrieren, vor denen sie immer wieder stehen. Da sind nicht nur die langen und unebenen Wege. Einige Ordner wissen nicht immer, ob die Rollifahrer auch über die Wege mit den Platten oder den Asphalt dürfen. "Der eine winkt dich durch, der andere schickt dich einmal außen herum. So ein Leitsystem wäre super", meint Lars. Lena schließt sich dem an. "Von A nach B kommen ist die größte Herausforderung. Gerade wenn man von dem Podest vor der Bühne weg will, dauert es immer sehr lange. Man wird übersehen, weil man eben eine Etage tiefer ist oder ab einer bestimmten Zeit dann auch viel Alkohol bei den Leuten im Spiel ist."
Bei all den Kritikpunkten loben alle drei das Engagement des Veranstalters. „Wir können direkt neben dem Auto zelten, müssen als nichts schleppen, haben geräumige Sanitäranlagen hier auf dem Campingplatz – auch wenn bei einer die Tür klemmt – und die Sicht von den Podesten ist super. Es wird von Jahr zu Jahr besser“, berichtet Lena. Sie lobt auch die Festivalguides, die sie gleich nach Verbesserungsvorschlägen gefragt haben.
Auch der Behindertenbeirat des Landkreises Rotenburg lobt die Bemühungen des Veranstalters. Seit 2022 geht Frank Roßdeutscher jährlich durch das Camp. "Das Bewusstsein für Menschen für Behinderung wird auf dem Hurricane von Jahr zu Jahr präsenter", erklärt der stellvertretende Vorsitzende. Das Ziel Barrierefreiheit sei sowieso zu hoch gesteckt. Es ginge um Barrierearmut. "Wir wollen Menschen mit Behinderung eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen, sie sichtbar machen. Sie wollen keine Sonderbehandlung, sondern einfach nur die Chance haben, dazu zugehören."

Frank Roßdeutscher, stellvertretender Vorsitzender des Behindertenbeirates LK Rotenburg, beim Hurricane-Festival in Scheeßel.
Lars stößt in die gleiche Kerbe: „Ich bin an sich zufrieden. Wenn man etwas anspricht, dann wird sich auch um eine Verbesserung gekümmert“, sagt er und betont: „Perfekt wird es für Menschen mit Behinderung nie sein. Barrieren wird es für uns immer geben. Aber ich sehe die Veränderungen positiv, es ist schon viel passiert.“