Diese Ruhe. Wido Roessler genießt es, vor seinem Haus auf Mallorca zu stehen und einfach nur aufs Meer zu schauen. Den Blick schweifen zu lassen, die Weite zu fühlen. Das entspannt. Mallorca ist schon seit Jahren der Lebensmittelpunkt des seit Kurzem 70-Jährigen, der sich hier mit einer Baufirma selbstständig gemacht hat. Die Arbeit mache ihm Spaß, nach wie vor. „Ich bin keiner, der einfach nur zu Hause rumsitzen kann“, sagt er selbst. Er müsse was tun, anpacken, verwirklichen. So sei er schon immer gewesen, das sei für ihn wichtig und nicht zuletzt ein Stück Lebensqualität. Und das habe sich auch im Alter nicht geändert. Die Liebe zur Insel auf den Kanaren ist beim Norddeutschen, der in Bremen geboren wurde und in Oyten einen Großteil seines Lebens verbracht hat, gleichfalls ungebrochen – auch in Corona-Zeiten. Wido Roessler lebt im Hier und Jetzt, er ist kein Träumer.
Doch wenn der Moment passend erscheint, unternimmt er gerne mal eine Zeitreise, eine Reise in seine eigene sportliche Vergangenheit. Denn die war lang, intensiv und erfolgreich. Als Rennfahrer hat er die legendären Strecken dieser Welt befahren, raste durch die berühmt-berüchtigte Eau-Rouge-Kurve im belgischen Spa, durchquerte die grüne Hölle des Nürburgrings und das Motodrom von Hockenheim – um nur mal ein paar prägnante Beispiele zu nennen. Er feierte Siege und durchlebte waghalsige Situationen. Er fuhr unter anderen für BMW, Porsche Lamborghini, Ferrari und McLaren – Namen, bei denen jedem Motorsport-Fan das Herz aufgeht. In seinem Kopf ist es in solchen Momenten, wenn er daran zurückdenkt, gar nicht mehr ruhig. Jetzt beherrschen Lärm, Hektik und jede Menge Adrenalin die Szenerie.
Wido Roessler blickt gerne zurück. Auch auf seine Anfänge, die zunächst einmal auf einem regen Interesse fußten. Nicht mehr, nicht weniger. „Ich war schon als Kind sehr motorsportinteressiert“, erzählt er. Aber wirklich angefangen habe das alles erst, als er den Führerschein in der Tasche hatte, in seinem Fall gleich mit 18. „Dann begann ich an Kartrennen und Rallyes teilzunehmen“, berichtet Roessler. Er merkte schnell, dass er talentiert war und sich auch mit der mitunter deutlich erfahreneren Konkurrenz messen konnte. In heimischen Gefilden machte sich der Oytener rasch einen Namen und genauso rasch auch über deren Grenzen hinaus. „Ich hatte das große Glück, dass mich ein BMW-Händler finanziell unterstützte“, ist Roessler immer noch dankbar für diese besondere Art der (Start-)Hilfe. Denn so konnte er an lukrativen Rundstreckenrennen teilnehmen, auch Flughafenrennen erfreuten sich damals großer Beliebtheit. Mitte der 1970er-Jahre sei das gewesen. „Da konnte ich meinen Jugendtraum verwirklichen“, bestätigt Roessler.
Die Konkurrenz war zum Teil namhaft, unter anderem duellierte er sich mit Hans-Joachim „Strietzel“ Stuck und dem späteren dreimaligen Formel-1-Weltmeister Niki Lauda. Abseits der Rennen sei der Umgang miteinander gleichwohl sehr freundschaftlich und locker gewesen. Es waren halt die 70er. „Wir haben zusammengesessen und gefeiert“, blickt Roessler schmunzelnd zurück. Gerne auch mal am Abend vor einem Rennen. Später sei dann alles deutlich professioneller geworden, auch für ihn selbst. Das hätte durchaus Vorteile gehabt. „Je professioneller das Umfeld ist, desto professioneller wird man auch selbst“, durfte er feststellen. Damals habe er einen eigenen Fitnesscoach gehabt und entsprechend hart an sich und seiner Form gefeilt. Das zahlte sich aus.

Einst rate er in einem Ferrari der Konkurrenz davon, wie hier im Jahre 2006 auf dem Nürburgring. Heutzutage verfolgt Wido Roessler das Renngeschehen von seinem Erstwohnsitz auf Mallorca aus – mit der entsprechenden Distanz, aber nach wie vor sehr interessiert.
Wido Roessler feierte in den 1990er- und vor allem den 2000er-Jahren seine größten Erfolge. Und die hatten es wahrlich in sich. Er gewann die 24 Stunden von Daytona/USA, einem absoluten Rennklassiker. Er fuhr in China vor 150 000 enthusiastischen Fans, was „mir einen absoluten Kick gegeben hat“, wie er selber sagt. Und er nahm am 24-Stunden-Rennen von Le Mans teil – für jeden Motorsportler ein ganz spezieller Ritterschlag. Allerdings war das Ende dieses Mal weniger erfreulich. „Der Turbolader ist explodiert“, beschreibt Roessler kurz und knapp das für ihn abrupte Ende. Doch solche Tiefschläge konterte er mit ungeahnten Höhenflügen. Er holte nämlich gleich drei Europameistertitel – mit Lamborghini, mit McLaren in einer Rennserie mit offenen Sportwagen und als krönender Höhepunkt in einem Ferrari. 2010 war das. „Die Serie bestand aus 16 Rennen und ich wurde mit einem Punkt Vorsprung Europameister“, gerät Roessler auch zehn Jahre später noch ins Schwärmen. Diese Emotionen seien unbezahlbar, es sei einfach wunderbar gewesen.
Vor allem die Siegerehrung nach seinem letzten EM-Triumph ringt ihm noch heute ein herzhaftes Lachen ab: „Da stand ich dann in der Mitte des Podestes, und links von mir stand ein 18-Jähriger und rechts ein 23-Jähriger.“ Dazwischen er mit fast 60. Dieser spezielle Moment ließ in ihm zwei Erkenntnisse reifen: zum einen, dass er mit der nachrückenden Generation noch prima mithalten konnte, und zum anderen, dass es jetzt doch ein prima Moment wäre, die Karriere zu beenden. Aufhören, wenn es am schönsten ist, wer wünscht sich das nicht. Wido Roessler nutzte die Gelegenheit und blieb konsequent – bis heute.
„Ich werde oft gefragt, ob mir der Abschied nicht schwer gefallen sei“, sagt er. Seine Antwort laute stets: Nein. „Es hat einfach perfekt gepasst und sich richtig angefühlt.“ Zumal Wido Roessler bei allem Aufwand, den er betrieben hat, nie ein lupenreiner Profi war, der nur für den Rennsport gelebt hat. Er war eher ein sehr ambitionierter Fahrer, der ein professionelles Pensum absolviert hat. Die Unterschiede mögen marginal sein, aber sie sind doch augenscheinlich.
Durch den Motorsport hat Roessler nichtsdestotrotz die Welt kennengelernt. „Ich bin auf jedem Kontinent unterwegs gewesen“, bestätigt er. Und letztlich ist es auch der ständigen Präsenz auf den Rennstrecken dieser Welt geschuldet, dass Wido Roessler seinen Nachnamen leicht abgeändert hat. Geboren wurde er nämlich als Wido Rößler. Doch damit begannen später die Probleme. „In den USA kennt man kein Eszett und auch keinen Umlaut“, berichtet er. In seinem Namen war beides vertreten. Das habe für Verwunderung und kritische Nachfragen gesorgt. „Deshalb habe ich in den USA oft stundenlang an der Passkontrolle gestanden.“ Irgendwann sei er es leid gewesen und habe beim Landkreis Verden eine Namensänderung beantragt. Und das erfolgreich. So heißt er seit Juni 1998 offiziell Roessler, ohne Eszett und ohne Umlaut.

Wido Roessler genießt sein Leben auf Mallorca.
Der Oytener, der nach wie vor enge familiäre Verbindungen zu seiner Heimat pflegt und sein grün-weißes Werder-Herz nach eigener Aussage nie verloren hat, geht auch in seinem jetzigen Leben auf. „Ich baue Häuser und vermarkte sie dann“, umschreibt er kurz seinen Tätigkeitsbereich, der ihm nach all den Jahren nach wie vor Freude bereite. Den Motorsport verfolgt er zumeist im Fernsehen, was auch ganz praktische Gründe habe. „Da kriegt man einfach mehr vom Rennen mit, als wenn man selber an der Strecke steht“, spricht er aus Erfahrung. Ab und zu werde er mal zu Veranstaltungen eingeladen, und das sei dann immer sehr nett, alte Weggefährten zu treffen. Im Laufe der Jahre hat er das Who is Who des Rennsports kennengelernt. Es gibt Fotos, die zeigen ihn im angeregten Plausch mit den Formel-1-Ikonen Michael Schumacher, Fernando Alonso oder Felipe Massa, mit denen er während seiner Ferrari-Zeit in Kontakt kam. Auch davon kann er zehren.
Was er sich nach all diesen vielfältigen Erlebnissen, Eindrücken und Emotionen für die Zukunft wünscht? Jedenfalls nichts Motorsportliches. „Gesundheit und Fitness“, antwortet Wido Roessler stattdessen. Und das nicht zuletzt aus einem ganz besonders schönen Grund. Er sei vor fünf Jahren noch einmal Vater einer Tochter geworden, berichtet er glücklich. „Und ihre Ausbildung möchte ich noch erleben und fürsorglich begleiten.“ Das sei sein größter Wunsch. Ansonsten habe er sein Leben „einfach nur genossen“.