Gewalt, wahrscheinlich aus Unkenntnis. Im Film „Masel Tov Cocktail“ wird Dimitrij Liebermann von Mitschüler Tobi in einer Form provoziert, der der Sohn jüdischer Einwanderer aus der Sowjetunion nur mit Gewalt zu begegnen weiß. Die Blessuren, die die Schläge und Tritte ins Gesicht des Gleichaltrigen hervorrufen, erzeugen bei Dimitrij einen Anflug von Reue; zu einer Versöhnung der Kontrahenten kommt es angesichts weiterer Beleidigungen jedoch nicht. Nur ein Beispiel? Rebecca Seidler, Coach und promovierte Bildungsreferentin mit dem Schwerpunkt Antisemitismus an verschiedenen Hochschulen in Niedersachsen, besuchte am Freitag das Cato Bontjes van Beek-Gymnasium und berichtete Schülern der Oberstufe aus ihrer ganz persönlichen Umgebung und dem Alltag ihrer Familie. Der Film, der Schülern des 11. und 13. Jahrgangs im Vorfeld gezeigt worden war, bildete die Grundlage für vorab geführte Diskussionen mit den Religionsfachkräften Helke Kessler und Arnd Seiferth sowie für den Vortrag der Referentin.
Seidler hat ein Diplomstudium der Sozialen Arbeit hinter sich und gründete 2012 das Kommunikat Dr. Seidler & Partner, dessen Leistungsspektrum Mediation, Coaching und Unternehmensberatung umfasst. Zudem beteiligt sie sich im Rahmen von Fachvorträgen und Seminaren aktiv im Kampf gegen das Wiedererstarken des Antisemitismus. Als Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover sei es ihr persönlicher Wunsch, jüdisches Leben in der Weiterentwicklung zu unterstützen und den interreligiösen und interkulturellen Dialog im gesellschaftlichen Miteinander zu fördern, beschrieb die Mutter zweier Söhne ihr Anliegen. Schon Mädchen und Jungen der 5. Klassen hätten sich dem komplexen Thema gegenüber aufgeschlossen gezeigt und gestellte Fragen zu beantworten versucht. „Was glaubt ihr, wie hoch ist der Anteil jüdischer Bürger unter den 84 Millionen Menschen hier im Land?“ sei eine davon gewesen, und die Tatsache, dass es kaum mehr als 100.000 seien, habe Erstaunen hervorgerufen. Eine Minderheit unter Minderheiten, stellte die Dozentin fest, und die Zahl derer, die sich oute, sich also zum eigenen Glauben bekenne, sinke angesichts von Diffamierungen und Übergriffen.
Juden als Sündenböcke
Gerade Familien mit Kindern befassen sich in zunehmendem Maße mit Gedanken, Deutschland in Richtung USA, Kanada oder Israel zu verlassen. In Frankreich sei der Prozess schon weiter fortgeschritten, beschreibt Seidler die Ängste der durch verletzende Äußerungen oder auch offen gezeigte Gewaltbereitschaft betroffenen Menschen. Schon für den Corona-Ausbruch seien vielfach „die Juden“ verantwortlich gemacht worden, die Inflation sei ein weiteres Beispiel, und wenn im Winter ein Engpass in der Wärmeversorgung eintreten sollte, werde ihr angst und bange. Gerade spontane verbale Attacken – auch ihren eigenen Kindern gegenüber – nötigten ihr Respekt vor Gefahren ab, die immer mal wieder den Blick darauf lenkten, dass Geschichte sich wiederhole. Verwundert zeigte sich die 42-Jährige auch darüber, dass an den Schulen zum Thema Judentum vornehmlich über das Naziregime und den Holocaust informiert werde. Die Geschichte der Menschen, die sehr oft von Geburt an der Gruppierung angehörten, ohne überhaupt religiös zu sein, werde meistens vernachlässigt.
Die etwa 60 anwesenden jungen Erwachsenen zeigten deutliches Interesse an den Beschreibungen jüdischen Kulturguts, in das Seidler gerne Einblick gewährte. So berichtete sie von den liberalen Juden und denen, die sich als orthodoxe und ultraorthodoxe Gemeindemitglieder teilweise strengen Regularien unterwürfen. Etwa 90 Prozent der hier Lebenden seien zudem aus der ehemaligen Sowjetunion eingereist, hauptsächlich Ultraorthodoxe, denen es dort nicht möglich gewesen sei, ihre Kultur zu leben. Der Sabbat eine sie alle; ein Tag in der Woche, an dem miteinander gepflegt gegessen und getrunken werde. Immer dabei: die Challa, ein mit Mohn oder Sesam bestreuter Hefezopf.