Klangpracht, Perfektion und Werkinterpretation voller Entdeckungen sind Standard bei den Gastspielen des Bremer Musikfests im Verdener Dom, denn Intendant Thomas Albert ist es Jahr für Jahr gelungen, erstrangige Interpreten und erlesene Werke hierher zu holen, die sowohl der kathedralen Würde als auch der schwierigen Akustik im Dom gerecht werden und das Publikum mit Aufführungen der ersten Liga zu verwöhnen.
Mit Beethovens "Missa Solemnis" gelang es dem belgischen Dirigenten René Jacobs am Donnerstagabend, ein "sperriges Werk", wie es im Programmtext heißt, in einer sperrigen Akustik zu einem Musikerlebnis von Intensität, faszinierenden Kontrasten und geistlicher Aufrichtigkeit zu machen.
Auszeichnung für Dirigent
Jacobs, von Albert als "einer der prägenden Protagonisten der flämisch-niederländischen Originalklang-Bewegung" beschrieben, dirigierte an den führenden Bühnen Europas, der USA und Asiens, errang viele bedeutende Preise und wurde nun im Anschluss an das Konzert im Domherrenhaus vor geladenen Gästen für seine Verdienste in der internationalen Musikwelt mit dem diesjährigen Musikfest-Preis ausgezeichnet.

Thomas Albert zeichnet den Dirigenten René Jacobs mit dem Musikfest-Preis aus.
Das flämische B'Rock Orchestra, die Zürcher Sing-Akademie und ein erstrangiges Soloensemble (Birgitte Christensen, Sophie Harmsen, Thomas Walker und Johannes Weisser) musizierten mit begeisternder Strahlkraft, Differenziertheit und gegenseitiger Einfühlung, sodass unter Jacobs so ruhigem wie inspirierendem Dirigat eine geradezu neuartige Interpretation voll intensiv herausmodellierter Details entstand.
Der hörbar junge und exzellente Chor war rechts und links seitlich zum Orchester aufgestellt, sodass die Stimmlinien beider Ensembles nicht übereinander, sondern parallel zueinander verliefen und ein optimaler Raumklang entstand.
Harmonierende Stimmen
Die vier Solosänger und -sängerinnen standen hinter dem Orchester, sodass sie weniger exponiert als gewöhnlich und sozusagen gleichberechtigt in den Gesamtklang eingewoben wirkten, was gerade in der Missa, die nur wenige reine Solopartien besitzt, sondern das Solistenteam zumeist im Ensemble agieren lässt, tatsächlich stimmig wirkte. Wann immer sich die Soli aus dem Klanggrund heraushoben, ließen ihre ideal miteinander harmonierenden Stimmen aufhorchen, wie zum Beispiel beim Solo-Tenor-Einsatz im Kyrie, der, gefolgt von den Frauensoli, zu einem Gänsehaut-Moment wurde. Auch das letzte "Eleyson", das in seiner dicht verwobenen Vielschichtigkeit aller Stimmen gar nicht enden wollte, berührte tief. Denn das ist eine der besonderen Stärken von Jacobs' Interpretation: Sie nimmt den Messetext sozusagen wortwörtlich beziehungsweise zeigt sie, dass Beethoven selbst genau das getan hat, sodass jedes Detail der biblischen Bilder in größter Anschaulichkeit ausgeformt ist.
Das aufbrausende Gloria zeigte spannungsgeladene Energie bei bester Transparenz. Die schmerzlich-schönen Dissonanzen des "miserere nobis" bestachen ebenso wie die weiche Flüssigkeit der Fuge Quoniam und die Ausdruckskraft des Solo-Ensembles, die direkt an den vierten Satz der Neunten erinnerte.
Zärtliches Zwischenspiel
Im Credo war die Konkretisierung der Passionserzählung beinahe auf die Spitze getrieben. Die Stimmung wechselte von Vers zu Vers, das "et incarnatus est" wie ein verwunderter und verwundernder Diskurs, das "et resurrexit" zum Himmel heraufleuchtend, "judicare vivos et mortuos" von den Trompeten des jüngsten Gerichts eingeleitet. Die Chorfuge "credo in spiritu sancto" wiederum wirkte mit ihrem immer wieder aufeinander fallenden "Credo, credo, credo", als wolle sich Beethoven mit zweifelndem Trotz seines eigenen Glaubens vergewissern. Nach dem zärtlichen Orchester-Zwischenspiel entfaltete auch das Amen mit dem innigen Chorgesang und den flehentlich fragenden Partien der Solisten eine Atmosphäre tiefer Traurigkeit. Das ganze Credo wirkte in seiner Gestimmtheit tatsächlich eher wie ein Requiemsatz.
Das unterstrichen auch die leisen Violinen-Schreie im tastend und fragend anhebenden Sanctus. Beim "pleni sunt coeli" stiegen die Flöten nicht in den Himmel hinauf, sondern von ihm herab. Das Benedictus schließlich mit dem zärtlichen Weinen der durchlaufenden Violinenkantilene (Bravissimo, Konzertmeister Evgeny Sviridov) verstärkte den Eindruck, der Meister habe sein eigenes Requiem geschrieben.
Flehentliches Bitten um Frieden
Das "Agnus Dei", dessen flehentliche Bitte um Frieden von den Krieg malenden Blechbläsern und Pauken konterkariert wurde, lässt sich nur mit dem Wort "erschütternd" beschreiben. In den bereits in die Hochromantik weisenden Passagen regierten helle Dissonanzen, aufgewühlte Streicher, immer wieder dramatisch übereinandergeschichtete "Pacem-Pacem-Pacem"-Rufe. Kaum zu begreifen, wie es Beethoven gelang, so viele Motive und Stimmungen, so viele Farben und dramatische Entwicklungen in die drei Worte "Dona nobis pacem" zu packen.
Das Werk schließt statt mit Amen mit dem vielfältig gestalteten, verzweifelten Ruf nach Frieden, der immer wieder von kriegerischem Grollen begleitet wird. Das konnte niemanden unberührt lassen, da musste man sich anschließen und um Frieden nicht nur für unsere zerrüttete Welt, sondern auch für die Seele des einsamen Genies bitten.