Trotz erheblicher verfassungsrechtlicher Bedenken gegen die automatische Ausgangssperre und Kritik am Fehlen einer Öffnungsklausel für Modellkommunen will Niedersachsen die bundesweite Corona-Notbremse mittragen. „Insgesamt wird Niedersachsen dem Vorhaben im Ergebnis nicht im Wege stehen“, erklärte Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) am Mittwoch im Landtag an. Eine Blockade im Bundesrat an diesem Donnerstag werde es somit nicht geben. Den Vermittlungsausschuss anzurufen, würde viel Zeit kosten. „Und Zeit steht in dieser Pandemie nur sehr begrenzt zur Verfügung“, betonte der Regierungschef und wies entsprechende Forderungen von FDP-Fraktionschef Stefan Birkner zurück.
„Unnötig, aber auch unschädlich“, nannte Weil die Auswirkungen des neuen Infektionsschutzgesetzes auf Niedersachsen. Schließlich habe das Land längst harte Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ergriffen, sei teilweise sogar strenger als die Vereinbarung von Bund und Ländern. Gleichzeitig kündigte Weil aber einen Spagat seiner rot-schwarzen Landesregierung an: einerseits Festhalten an der strikteren Linie in Niedersachsen, andererseits Einschwenken auf neue Freiheitsspielräume, die der Bund ermöglicht. Niedersachsen will passend zum Inkrafttreten des neuen Gesetzes – vermutlich noch am Wochenende – auch seine Landesverordnung anpassen.
Schulen bleiben weiterhin ab einer Inzidenz von 100 geschlossen
Schulen: So soll es hier bei generellen Schulschließungen – mit Ausnahme von Grund- und Förderschulen sowie Abschlussklassen - schon ab einem Inzidenzwert von 100 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche bleiben. Der Bund hat hier als neuen Grenzwert 165 eingezogen. „Das ist gelinde gesagt überraschend“, kritisierte Weil und war sich zumindest in diesem Punkt mit den Oppositionsfraktionen einig. „Wir brauchen doch nicht noch mehr Zahlen“, schimpfte Grünen-Fraktionschefin Julia Willie Hamburg.
Kontakte: Bei den Kontaktbeschränkungen dagegen will Niedersachsen dem Bund folgen, also lockern. Bei privaten Treffen werden künftig Kinder bis zu 14 Jahren nicht mehr mitgezählt; derzeit liegt die Altersgrenze in Niedersachsen bei 6 Jahren. Auch Kinder-Sport in Fünfer-Gruppen wird erlaubt. Beim Einkaufen mit Termin („click and meet“) mildert das Land die Regeln ebenfalls ab. Shoppen mit Test soll bis zu einer Inzidenz von 150 möglich werden, bislang liegt der Wert bei 100. „Diese Punkte dienen der bundesweiten Vereinheitlichung“, begründete SPD-Parlamentsgeschäftsführer Wiard Siebels die kleinen neuen Freiheiten.
Ausgangssperre: Die größte Verschärfung für Niedersachsen bringt die im Bundestag verabschiedete Novelle des bundesweit gültigen Infektionsschutzgesetzes mit der nächtlichen Ausgangssperre ab einer 100-er Inzidenz. Für die betroffenen Landkreise oder großen Städte gilt diese verpflichtend zwischen 22:00 und 5:00 Uhr. Bei wichtigen Gründen wie Wege zur Arbeit sind Ausnahmen erlaubt. Außerdem dürfen sich Spaziergänger und Jogger sich einzeln bis Mitternacht auf den Straßen bewegen. „Auf dieser Grundlage sind in Niedersachsen in vielen weiteren Regionen Ausgangsbeschränkungen zu erwarten“, prophezeite Weil.

Dem FPD-Fraktionsvorsitzenden Stefan Birkner gehen die geplanten Ausgangssperren zu weit.
Bisher war die Maßnahme im Land erst ab einem Wert von 150 verpflichtend, unterlag aber nicht zuletzt wegen einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg einer strengen Prüfung der Verhältnismäßigkeit. Am Mittwoch hatten 30 der 45 Kreise und Städte die neue und einfachere 100-er Grenze überschritten. „Das ist nicht unschädlich, das betrifft zwei Drittel unserer Bevölkerung“, warf FDP-Mann Birkner dem Ministerpräsidenten verharmlosende Aussagen vor. CDU-Fraktionschef Dirk Toepffer sprach dagegen von einem „relativ milden Eingriff“, um verbotene Partys mit hohem Ansteckungsrisiko zu unterbinden. „Die meisten Menschen sitzen zwischen 22 und 5 Uhr ohnehin zuhause.“
Modellkommunen: Verärgert zeigte sich Regierungschef Weil über das Fehlen einer Regelung für die Modellkommunen, wenn der Inzidenzwert im laufenden Projekt die 100-er Marke überschreite. Der Bund habe eine Klärung dieser wichtigen Frage konsequent abgelehnt. „Ich halte das für einen Fehler“, bemängelte der Ministerpräsident. „Wir müssen Erfahrungen sammeln, wie mehr Normalität wieder möglich werden kann.“ Weil selbst habe den Kommunen die Antworten liefern müssen, konterte Birkner. Jetzt werde doch keine Stadt, die bei 80 oder 90 liege, noch Öffnungsschritte einleiten. „Sagen Sie es hier doch offen“, forderte der Liberale den Regierungschef auf. „Die Modellkommunen sind erledigt.“

Die Grünen-Politikerin Julia Willie Hamburg forderte einen harten Lockdown.
Insgesamt warf die Opposition der Regierung einen „Schlingerkurs“ vor. „Damit verspielen Sie das Vertrauen der Bürger“, warnte Birkner. „Die Menschen in Niedersachsen warten seit Monaten auf Antworten und Handlungen“, kritisierte Grünen-Fraktionschefin Hamburg. Sie plädierte für einen kurzen, harten Lockdown mit einer umfassenden Teststrategie insbesondere in den Betrieben, um die Zahl der Neuinfektionen schnell zu senken und anschließend zu abgestuften Öffnungen zu kommen. Außerdem müsse man deutlich mehr Aktivitäten, vor allem in Schulen und Kindergärten nach draußen verlegen. Dort sei die Infektionsgefahr deutlich geringer als in geschlossenen Räumen. Der AfD-Abgeordnete Harm Rykena lehnte dagegen eine Test- und Impfpflicht ab.