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Niedersächsischer Landtag Das Vermächtnis der ersten Präsidentin

Nach mehr als 24 Jahren verlässt Gabriele Andretta den Landtag und wechselt in die Wissenschaft. Die Noch-Landtagspräsidentin engagiert für mehr Vielfalt in der Politik.
18.10.2022, 05:00 Uhr
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Das Vermächtnis der ersten Präsidentin
Von Peter Mlodoch

Nach Abschied und Auszug sieht das riesige, lichtdurchflutete Büro der Hausherrin noch nicht so richtig aus. Quirlig wuselt Landtagspräsidentin Gabriele Andretta (SPD) zwischen Schreibtisch und Sitzecke hin und her. Nur ab und zu packt sie schon mal ein paar private Bücher in einen Umzugskarton. In drei Wochen endet ihre Amtszeit als protokollarisch höchste Repräsentantin Niedersachsens. Gleichzeitig verlässt sie nach mehr als 24 Jahren das Parlament; fünf Mal in Folge hat sie ihr Mandat im Wahlkreis Göttingen direkt gewonnen.

Bis zum endgültigen Schlusspunkt gibt es aber noch einiges zu tun: Andretta führt die Aufsicht über die Umbauarbeiten im Plenarsaal, die wegen der neuen Machtverhältnisse und der auf 146 gestiegenen Anzahl von Abgeordneten erforderlich geworden sind. Und ihr steht ein wichtiger formaler Akt bevor. Als Präsidentin der 18. Legislaturperiode muss sie die wiedergewählten und neuen Parlamentarier zur konstituierenden Sitzung der 19. Wahlperiode einladen. Die Eröffnung ist für den 8. November geplant; an diesem Tag ist Andretta dann nur noch Gast in ihrer langjährigen Wirkungsstätte.

Erste Frau an der Spitze

Wehmut lässt sich die scheidende Präsidentin, die erste Frau überhaupt auf diesem Posten, allerdings nicht anmerken. „Ich habe mir immer einen selbstbestimmten Abschied aus der Politik gewünscht. Das ist mir gelungen“, betont Andretta im Gespräch mit dem WESER-KURIER. Bereits Anfang des Jahres hat sie ihren Rückzug öffentlich angekündigt. „Es ist richtig und fair, der jungen Generation genügend Raum zum Mitgestalten zu geben“, fügt die 61-Jährige an. „Die Distanz zur parlamentarischen Demokratie liegt zum Teil daran, dass junge Menschen ihre Interessen dort nicht vertreten sehen.“

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Gerade in der Corona-Pandemie sei deren schwierige Situation von der Politik schlicht vernachlässigt worden. „Das Wahlalter mit 16 wäre ein wichtiges Signal gewesen. Diese Chance haben wir leider vertan“, blickt Andretta ohne konkrete Schuldzuweisungen kritisch zurück. Neben Grünen und FDP hätte ihre SPD den Artikel 8 der Landesverfassung gern geändert, war aber am Widerstand des Koalitionspartners CDU gescheitert.

"Vielfalt stärkt Demokratie"

Da ist die promovierte Sozialwissenschaftlerin voller Leidenschaft wieder mittendrin in ihrem Hauptanliegen, den Niedersächsischen Landtag für breite Bevölkerungsschichten zu öffnen. Nicht nur mit zahlreichen Besucherformaten als gastfreundliches, immer zugängliches Haus für die Bürger. Sondern auch in den Abgeordnetenreihen selbst. „Vielfalt stärkt Demokratie“, sagt Andretta. Je bunter das Parlament, desto besser fühle sich die gesamte Gesellschaft von dort vertreten. Der nächste Landtag erfüllt diese Vorgaben immerhin in Ansätzen: Der Altersschnitt geht deutlich nach unten. Für die Grünen sind zwei schwarze Abgeordnete ins Leineschloss gezogen, der neuen SPD-Fraktion gehört ein Rollstuhlfahrer an – der erste überhaupt in der Geschichte des Landtags.

34 Prozent Frauen im Parlament

Deutlich weiblicher ist das Parlament allen Bekundungen zum Trotz allerdings nicht geworden. Lediglich 34 Prozent beträgt der künftige Frauenanteil, unwesentlich mehr als in der abgelaufenen Legislaturperiode. „Das zeigt Stillstand“, kritisiert Andretta. Dass die Ursache dafür auch bei ihrer eigenen Partei zu suchen ist, weiß sie nur zu gut. Zwar stellen die Genossen ihre Landesliste schon seit Jahren im Reißverschlussverfahren von Männern und Frauen abwechselnd auf. Doch was nutzt dies, wenn die Liste gar nicht zieht und von den 57 Direktmandaten 40 an Männer gehen? „Das zeigt, dass Appelle allein nicht reichen“, erklärt Andretta und beschreibt eine Art politisches Vermächtnis. „Wir brauchen machtvolle Instrumente. Und das sind Parité-Gesetze. Auch diese stärken die Demokratie.“

In der 18. Wahlperiode sind alle Vorstöße in diese Richtung an juristischen Bedenken und politischen Widerständen gescheitert. Wie schwierig und auch gefährlich der Einsatz für mehr Geschlechtergerechtigkeit werden kann, musste die Präsidentin hautnah selbst erleben. Als sich Andretta für den Internationalen Frauentag am 8. März als neuen Feiertag in Niedersachsen stark machte, bekam sie nicht nur Ärger in den eigenen Reihen. In den sozialen Medien gab es einen regelrechten Shitstorm gegen sie, am Telefon wurde sie mit Vergewaltigungsfantasien bedroht.

Hass und Hetze hagelte es auch, als die Präsidentin es wagte, für einen schnelleren Corona-Impfschutz für Abgeordnete und Landtagsmitarbeiter zu sorgen, um die Arbeitsfähigkeit des Parlaments sicherzustellen. „Das macht was mit einem“, beklagt Andretta im Rückblick. Das Ziel solch enthemmter Aktionen sei es, andere Meinungen mundtot zu machen. Neben rechtlichen Schritten helfe vor allem Solidarität mit den Betroffenen. „Wir müssen uns entgegenstellen und zeigen, dass wir nicht weichen.“

Wunsch nach Nachfolgerin

Unter dem Strich stehen aber die positiven Erlebnisse und Entwicklungen. Andretta war 1998 die erste Frau, die ihr Baby im Wickeltuch mit ins Parlament brachte. „Mütter mit Kindern waren damals nicht willkommen. Das hat mein frauenpolitischen Engagement angefacht.“ Während sie damals noch auf dem Fußboden die Windeln wechseln musste, gibt es in den Parlamentsgebäuden längst zahlreiche Wickeltische, eine Landtags-Kita und ein Mutter-Kind-Büro. „Der nächste Schritt muss sein, dass auch Abgeordnete Elternzeit nehmen können“, gibt Andretta dem neuen Parlament als Forderung mit auf den Weg. „Das macht die Mandate attraktiver.“ Dass ihre Nachfolgerin wieder eine Frau werden müsse, sei für sie selbstverständlich. „Alles andere wäre ein Rückschritt.“

Lehrauftrag in Marburg

Für sie selbst kommt Ruhestand nicht in Frage. Sie folgt einem Ruf an die Universität Marburg, wo sie am Institut für Politikwissenschaft einen Lehrauftrag annehmen wird. Das Thema, wie könnte es anders sein, soll sich um Frauenförderung drehen, verrät Andretta. Einladungen für weitere wissenschaftliche Arbeiten habe sie außerdem von den Unis in Glasgow und Göttingen erhalten.

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