Über Stunden, Tage und sogar Wochen haben sie ihn gesucht, den kleinen hellblonden Jungen mit dem verschmitzten Lächeln. Ganz Frankreich bangte im Sommer 2023 um den zweieinhalbjährigen Émile Soleil, der aus dem Ferienhaus seiner Großeltern im Weiler Le Haut-Vernet in den französischen Alpen spurlos verschwunden war. Er sollte dort die Sommerferien verbringen. Dutzende Freiwillige durchforsteten jeden Quadratmeter in der Umgebung, die Polizei rückte mit einem Großaufgebot und modernsten technischen Mitteln an. Vergebens.
Erst als vor genau einem Jahr eine Wanderin in der Region auf seinen Schädel stieß, ein Knochen und Kleidungsstücke gefunden wurden, schien das Rätsel gelöst: Émile sei wohl tödlich verunglückt, hieß es. Möglicherweise hätten Tiere seine Körperteile verstreut und verschleppt. Allerdings bestanden Zweifel an einem natürlichen Tod weiter. Hätte der kleine Junge wirklich die 1,7 Kilometer in der unwirtlichen, hügeligen Gegend zurücklegen können, ohne aufgespürt zu werden?
Polizei hört Familienmitglieder ab
Die Polizei ermittelte weiter, hörte heimlich einige Familienmitglieder ab – und nahm am Dienstag die Großeltern mütterlicherseits, Anne und Philippe Vedovini, sowie einen Onkel und eine Tante des Jungen wegen des Verdachts des vorsätzlichen Totschlags und der Wegschaffung der Leiche in Untersuchungshaft. Spätestens an diesem Donnerstag müssen sie freigelassen oder aber ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden.
Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht Émiles Großvater, dessen Anwältin sagte, er kooperiere vorbildlich mit den Ermittlern. Auch weitere Zeugen wurden befragt, das Haus der Familie im Dorf La Bouilladisse bei Marseille durchsucht, ihr Auto und ein Pferdeanhänger überprüft. Es ist eine spektakuläre Wende in dem Fall, der Frankreich aufwühlt.
Bereits vor zwei Wochen hatte die Polizei einen großen Blumenkasten vor der Kapelle des Dörfchens Le Haut-Vernet, wo Émile verschwand, für Analysen mitgenommen. Einen entsprechenden Hinweis dafür hatte sie französischen Medienberichten zufolge in einem anonymen Brief bekommen.
Anwohner hatten Familie im Verdacht
Die Menschen in dem Weiler zeigten sich gegenüber Journalisten wenig überrascht über die vorläufigen Festnahmen. Vielen galt Émiles Familie längst als verdächtig. Natürlich seien die Ermittlungsergebnisse abzuwarten, sagte Gilles, ein Bewohner, gegenüber dem französischen Fernsehsender BFMTV. „Aber die Wahrheit wird uns sehr weh tun.“ Als verstörend gilt auch der Suizid des Priesters Claude Gilliot Mitte März, der Émile getauft hatte und seinen Eltern und Großeltern nahestand. Gilliots Schwester gab in den Medien der Familie Vedovini die Schuld daran.
Diese ist strikt katholisch und lebt zurückgezogen. Die zehn Kinder, von denen Émiles Mutter Marie die Älteste ist, wurden und werden nicht in der Schule, sondern zu Hause unterrichtet. Der 59-jährige Philippe Vedovini, der als Osteopath arbeitet, gilt als autoritär und cholerisch. Anfang der 1990er-Jahre arbeitete er in einem inzwischen geschlossenen katholischen Jungen-Internat, in dem es zu Gewalt und sexuellen Angriffen durch Betreuer gekommen sein soll. Ehemalige Schüler beschrieben Émiles Großvater als „den Härtesten von allen“. Er selbst gab bei einer Befragung zu, „einige Ohrfeigen“ verteilt zu haben. Zu einer Verurteilung kam es nicht.
Familie lebt zurückgezogen
2018 wurde er wegen des Verdachts der „rassistischen Gewalt“ im Rahmen seiner Zugehörigkeit zu einem rechtsextremen Gruppierung verhört, die das Innenministerium inzwischen verboten hat. Auch Émiles Eltern, Marie und Colomban Soleil, gehörten in der Vergangenheit rechtsradikalen Zusammenschlüssen an. Sie haben inzwischen zwei weitere kleine Kinder.
In ihrem einzigen Interview, das sie der Zeitschrift „Famille Chrétienne“ („Christliche Familie“) gaben, dankten Émiles Eltern ihren Unterstützern und beklagten boshafte Angriffe durch Unbekannte in den sozialen Medien. Die Großeltern veröffentlichten im vergangenen Sommer ein Kommuniqué, in dem sie schrieben, sie litten an der Ungewissheit und wollten verstehen, was mit Émile passiert sei. „Die Zeit der Stille muss der Wahrheit Platz machen.“ Dass diese bald ans Licht kommt, hoffen viele.