Herr Frisch, wenn Sie Nigeria in einem Wort beschreiben müssten – welches wäre das?
Philipp Frisch: Groß. Es ist ein unheimlich großes Land mit ganz unterschiedlichen Regionen und Problemen – von dünn besiedelten Gebieten im Nordosten bis hin zu Lagos, dem Prototyp einer Megacity.
Wo waren Sie unterwegs, und welche Lage fanden Sie dort vor?
Ich war sechs Wochen im Bundesstaat Borno, und dort ist die Lage aus humanitärer Perspektive sehr besorgniserregend. In dieser Region findet seit neun Jahren ein brutal geführter Konflikt zwischen bewaffneten Gruppen und der nigerianischen Armee statt. Hunderttausende Menschen wurden intern vertrieben und haben von heute auf morgen ihre Lebensgrundlage verloren. Der Bedarf an Hilfe ist viel größer als das, was aktuell geleistet werden kann. Das hängt auch mit der Sicherheitslage zusammen: Viele Orte sind schwer oder gar nicht erreichbar. Schätzungsweise 800.000 Menschen leben abgeschnitten auf dem Land. Es ist ein humanitärer Notfall.
Die Konflikte in Nigeria sind meist ethnisch-religiös geprägt. Der Norden ist mehrheitlich muslimisch, der Süden christlich. War diese Spaltung für Sie spürbar?
Die Auseinandersetzungen haben bei weitem nicht nur mit Religion zu tun. Die bewaffneten Gruppen haben vermutlich das Gefühl, innerhalb dieses großen Staates marginalisiert zu sein und haben sich radikalisiert. Alle Konfliktparteien nehmen kaum Rücksicht auf Zivilisten und greifen sie manchmal sogar gezielt an.
Die Regierung des aktuellen Präsidenten Buhari hatte die Terroristen schon für besiegt erklärt. Außerdem wurde versprochen, Korruption und Armut zu bekämpfen. Die Realität sieht anders aus. Versprechen sich die Menschen von den Wahlen eine Verbesserung?
Die Menschen, die bis zu drei Jahren in Flüchtlingslagern ausharren, wünschen sich nichts sehnlicher, als nach Hause zurückzukehren. Der Verlust der Kontrolle über das eigene Leben ist traumatisch: Man ist nicht mehr in der Lage, die eigene Zukunft und die der Familie planen zu können. Die Kampfhandlungen müssen aufhören, sodass die Menschen heimkehren können in sichere Gebiete, in denen sie Zugang zu Gesundheitsversorgung, sauberem Wasser und Unterstützung haben.
2018 machten die Nigerianer in Deutschland die viertgrößte Gruppe derer aus, die Asyl beantragten. Trotzdem hat man den Eindruck, dass sich hier kaum jemand für die Lage dort interessiert.
Ich war selbst überrascht, wie wenig Aufmerksamkeit diese Konflikte in der deutschen Öffentlichkeit bekommen. Bei dem Fluchtaspekt darf man aber nicht vergessen, dass Nigeria das bevölkerungsreichste Land Afrikas ist. Auch wenn sich nur ein kleiner Teil auf den Weg nach Europa macht, sind das hohe absolute Zahlen – auch wenn prozentual zum Beispiel aus Eritrea deutlich mehr Menschen fliehen. Meine Erfahrung ist, dass die meisten Menschen nicht darüber nachdenken, nach Europa zu gehen. Zum einen, weil sie es gar nicht wollen, und zum anderen, weil sie es sich nicht leisten könnten. Viele der intern Vertriebenen können sich nicht einmal die Mittel absparen, um ein krankes Kind mit dem Taxi ins nächste Dorf zu bringen.
Was muss sich in Nigeria ändern?
Für die Menschen im Nordosten muss sich kurzfristig eine Menge ändern. Internationale Organisationen, die UN, aber auch der nigerianische Staat sind gefordert, die Hilfe besser zu organisieren. Deutschland sollte sein politisches Gewicht in die Waagschale werfen, um auf die Konfliktparteien einzuwirken. Vor allem darf nicht immer alles unter dem Aspekt betrachtet werden, ob es sicherheits- oder fluchtpolitisch relevant ist. Deutschland muss sich seiner humanitären Verantwortung bewusst sein.

Philipp Frisch
Das Interview führte Alice Echtermann.
Zur Person:
Philipp Frisch (32) leitet die politische Abteilung der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen in Berlin. Ende 2018 war er für sechs Wochen im Nordosten Nigerias unterwegs, um die humanitäre Lage in der von bewaffneten Konflikten zerrütteten Region zu beobachten.