Drastisch gesunkene Steuereinnahmen, milliardenschwere staatliche Hilfsprogramme – für Haushälter ist das Jahr 2020 ebenso außergewöhnlich wie dramatisch. Die Corona-Krise lähmt die Wirtschaft, und die Folgen sind noch gar nicht abzuschätzen, weil niemand sagen kann, wann die konjunkturelle Talfahrt endet. Klar ist: Es muss gegengesteuert werden. Die Wirtschaft muss schnell wiederbelebt werden, damit so viele Jobs wie möglich erhalten bleiben. Klar ist auch: Auf die Sozialsysteme kommen ebenfalls harte Zeiten zu. Der rasante Anstieg von Kurzarbeit und der Verlust an Jobs heißt: weniger Beiträge, die in die Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung fließen.
Erste mahnende Stimmen sind zu hören. Aus der Union kommt die Forderung, die Einführung der Grundrente auf die Zeit nach der Pandemie zu verschieben. „Wir sollten uns ehrlich machen: Die Grundrente wird bis auf Weiteres nicht kommen“, sagt Carsten Linnemann, Vorsitzender der Mittelstandsvereinigung von CDU und CSU. Und in einer Stellungnahme der Bundesregierung zum Gesetzentwurf an den Bundesrat heißt es: „Die Krise führt zu einer besonderen Belastungssituation der Rentenversicherung.“ Vor diesem Hintergrund könne eine „gestaffelte Umsetzung“ grundsätzlich in Betracht zu ziehen sein.
IW fordert Halbierung der Rentenerhöhung
Das arbeitgebernahe Wirtschaftsforschungsinstitut IW in Köln macht sogar einen noch brisanteren Vorschlag. Es befürwortet eine Halbierung der anstehenden Rentenerhöhung. Diese immer zum 1. Juli eines Jahres vorgenommene Anpassung fällt in diesem Jahr besonders hoch aus. Die Renten sollen um 3,45 Prozent im Westen und um 4,20 Prozent im Osten angehoben werden, so hat die Bundesregierung es im April beschlossen. Diese Anpassung kommt nicht willkürlich zustande, sondern ist gesetzlich vorgeschrieben und orientiert sich unter anderem an der Bruttolohnentwicklung. Der Vorschlag der Kölner Wirtschaftsexperten wäre also ein massiver Eingriff in die geltende Rentenformel. Jochen Pimpertz, Verfasser des IW-Papiers, begründet ihn ebenfalls mit der Corona-Krise. „Die Rentenkasse ließe sich durch eine Halbierung der Rentenerhöhung um schätzungsweise gut drei Milliarden Euro entlasten“, so seine Berechnung.
Der Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen geht mit seinem Vorschlag noch einen Schritt weiter, er spricht sich quasi für eine Nullrunde in 2020 aus. Um die Rentenversicherung zu entlasten fordert er „ein Rentenmoratorium bis Ende des Jahres“. Je nach wirtschaftlicher Entwicklung, so Raffelhüschen, könne die Bundesregierung dann entscheiden, ob die Rentenerhöhung nachgezogen werde oder, wie vom IW vorgeschlagen, halbiert werden müsse.
Auch wenn noch keine verlässlichen Zahlen vorliegen zeichnet sich ab: Die Zeit der stetig steigenden Beitragseinnahmen und der gut gefüllten Reserven wird mit diesem Jahr enden. Der finanzielle Druck auf die Rentenkassen wird zunehmen. Dennoch erscheint eine Halbierung oder gar eine Nullrunde als überzogen. Zum einen, weil dadurch das Vertrauen in die gesetzliche Rente weiter erschüttert würde. Und zum anderen, weil den Rentenbeziehern auch keine Extrawürste gebraten wurden, als es in den Jahren 2004 bis 2006 jeweils Nullrunden gab. Außerdem ist absehbar, dass durch die Pandemie die Lohnentwicklung merklich abgebremst werden dürfte. Das heißt: Bereits im nächsten Jahr wird die Rentenanpassung wieder geringer ausfallen.
Es besteht also kein Grund, die gesetzliche Grundlage der Renten zur Disposition zu stellen. Diesen Fehler hat die Politik leider schon öfter gemacht. Sei es, dass aus der Sozialkasse bezahlt wurde, was aus Steuermitteln hätte finanziert werden müssen (Beispiel Mütterrente). Sei es, dass die Rentenberechnungsformel so verändert wurde (Riester- und Nachhaltigkeitsfaktor), dass die Rente über Jahre von der Lohnentwicklung abgehängt wurde. Außerdem sollte die Deckelung des Beitragssatzes bis 2025 überprüft werden. Seit 2013 liegt er nahezu unverändert bei jetzt 18,6 Prozent; 2011 hatte er noch 19,9 Prozent betragen. Eine moderate Erhöhung wäre ganz sicher vermittelbarer als ein Rentenmoratorium.