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Istanbul Flucht nach Deutschland ab 7500 Euro – ein Schleuser packt aus

Istanbul. Die Wanduhr in der tristen Wohnung im Istanbuler Stadtteil Aksaray ist um acht Uhr stehen geblieben Zwei durchgesackte Sofas stehen im Wohnzimmer, auf dem Couchtisch ein Aschenbecher. Vor einer der mintgrün gestrichenen Wände befindet sich ein Fernseher, die Steckdose darüber aus der Fassung gerissen.
16.04.2015, 00:00 Uhr
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Von Can Merey

Die Wanduhr in der tristen Wohnung im Istanbuler Stadtteil Aksaray ist um acht Uhr stehen geblieben Zwei durchgesackte Sofas stehen im Wohnzimmer, auf dem Couchtisch ein Aschenbecher. Vor einer der mintgrün gestrichenen Wände befindet sich ein Fernseher, die Steckdose darüber aus der Fassung gerissen. Die Wohnung mit ihren drei kargen Schlafzimmern ist kein Zuhause, sondern Durchgangsstation für manchmal bis zu 15 illegale Flüchtlinge gleichzeitig, von denen die meisten nach Deutschland wollen. Den Schlüssel für die Behausung hütet Hamid – der einem Schleuserring in der Türkei angehört.

Hamid ist ein jesidischer Kurde und selber vor zwei Jahren aus Syrien geflohen. Seinen vollen Namen möchte der 40-Jährige nicht nennen, auch fotografiert werden will er nicht. Zustande gekommen ist der Kontakt über einen Flüchtling in der südtürkischen Stadt Viransehir, der nach Deutschland will und Hamids Telefonnummer hat. Hamid erklärt, seine Aufgabe sei, Flüchtlinge in Istanbul unterzubringen, bevor sie weiterreisen. Die anderen vier Mitglieder seiner türkisch-kurdischen Gruppe organisierten unter anderem den Grenzübertritt nach Bulgarien, wo ein eigenes Schleusernetz die Flüchtlinge übernehme.

In den vergangenen zwei Jahren habe alleine seine Gruppe mehr als 500 Flüchtlinge in die EU gebracht, schätzt Hamid. Immer mehr Menschen versuchten, dem Elend in ihrer Heimat zu entkommen. „Die Zahl nimmt zu“, sagt der Schleuser. „Die meisten wollen nach Deutschland.“ Seine Kundschaft bestehe vor allem aus Kurden aus dem Irak und Syrien, darunter viele Jesiden. Auch einige Araber und Afghanen seien dabei.

Die Preise der verschiedenen Schleuserbanden schwankten, sagt Hamid. Für den Landweg über Bulgarien nach Deutschland würden 7500 Euro bis 12 000 Euro pro Person fällig, seine Gruppe verlange 8500 Euro; das Geld werde in der Regel bei einer Wechselstube hinterlegt. „Wenn Du ein Schiff nimmst, ist es billiger.“ Eine Überfahrt nach Italien koste 5000 Euro, der einfache Grenzübertritt nach Bulgarien 1500 Euro. „Die meisten unserer Kunden gehen über Bulgarien“, berichtet Hamid. „Sie haben Angst vor den Schiffen.“ Er selber rate den Flüchtlingen vom Seeweg ab. „Es ist sehr riskant. Viele Menschen sterben.“

75 Prozent der Flüchtlinge, die nach Deutschland wollten, erreichten ihr Ziel, schätzt Hamid. Und er behauptet von seiner Schleuserbande: „Wer zurückgeschickt wird, bekommt sein Geld zurück“ – abzüglich der Auslagen. Der schwierigste Schritt sei der Grenzübertritt nach Bulgarien und damit in die EU, der zu Fuß geschehe. Danach gehe es mit Lastwagen oder Minibussen weiter. Serbien sei wegen vieler Kontrollen ebenfalls schwierig, ab Ungarn werde es dann leichter. „Man braucht sechs bis sieben Tage, um Deutschland zu erreichen.“

Rawand gehörte zu denen, die es nicht nach Deutschland geschafft haben. Der 30-jährige Jeside aus dem Irak sitzt in der Wohnung in Aksaray und ist verzweifelt. Vor wenigen Tagen stoppten ihn die bulgarischen Grenzer, sie schickten ihn und die anderen Flüchtlinge seiner Gruppe in die Türkei zurück. Rawands schwarze Lederjacke hat am rechten Oberarm ein Loch, er sagt, ein Hund der Grenzer habe ihn dort gebissen. Die Bulgaren hätten den Flüchtlingen alles Bargeld und ihre Handys abgenommen. „Sie haben uns mit Stöcken geschlagen.“ Rawand will es trotzdem wieder auf dem Landweg in die EU versuchen. „Übers Meer gehe ich nicht“, betont er. „Da stirbst Du.“

Hamid macht sein Job nach seinen Worten weder reich noch glücklich. „Ich kann überleben und für meine drei Kinder bezahlen“, sagt er. Viele Flüchtlinge hätten alle ihre Habseligkeiten verkauft, um die Flucht zu bezahlen. „Ich sehe Menschen, die wirklich verzweifelt sind. Sie geben uns ihr Geld, um nach Europa zu kommen. Das macht mich sehr traurig.“ Ohne Geld sei der Weg in die EU aber nun einmal nicht zu bewältigen. Dem deutschen Reporter sagt Hamid: „Bitte schreibe, dass die Jesiden ihr Geld nicht den Menschenschmugglern geben wollen.“ Stattdessen solle Deutschland den Flüchtlinge die Einreise erlauben.

Auch Hamid würde seine Familie am liebsten nach Deutschland bringen. „Wenn Deutschland mir ein Visum geben würde, wäre ich morgen früh auf dem ersten Flug“, behauptet der Schleuser. Die illegale Flucht in die Bundesrepublik – die auch für seine fünfköpfige Familie Zehntausende Euro kosten würde – könne er sich schlicht nicht leisten.

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