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Kriegsähnliche Zustände G20: Das ist nicht die Stadt der Hamburger

Die Befürchtungen vor dem G20-Gipfel sind wahr geworden: In Hamburg herrschen kriegsähnliche Zustände. Bereits am Donnerstagabend gab es die ersten Ausschreitungen - und die Krawalle gehen weiter.
07.07.2017, 22:22 Uhr
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G20: Das ist nicht die Stadt der Hamburger
Von Stefan Dammann

Hamburg rühmt sich, das Tor zur Welt zu sein. Eine schöne, weltoffene Stadt. Dieser Tage gibt es dort gleich mehrere Tore zur Welt. Sie stehen rund ums Messegelände, sind mit französischen Spezialwagen vergattert und von Polizisten und Wasserwerfen bewacht. Dahinter ist die Welt. Trump, Putin, Erdogan und Merkel – sie sollen Glanz in die Hansestadt bringen. Hamburg muss sie bewachen, keine Frage. Wobei Bürgermeister Olaf Scholz vor zwei Wochen sagte: „Die Staatschefs müssen gar nicht bewacht werden, wir müssen die gewaltbereiten Demonstranten bewachen.“ Gäbe es die nicht, sei auch keine Polizei notwendig.

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Nun ja, das größte Polizeiaufgebot ist im Moment dafür notwendig, die Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt zu bewachen. Oder Tränen zu trocknen. Eine Reporterin hat an der am Freitagmorgen heiß umkämpften Max-Brauer-Allee in Altona den 26 Jahre alten Logistikhelfer Florian von Airbus getroffen. Er stand vor den Resten seiner C-Klasse und weinte. Desorientiert fotografierte er, wie die Feuerwehr sein Wrack löschte.

Erste Eskalation am Donnerstagabend

Jonca Laleli dagegen ist in der Nacht zu Freitag kurz vor Mitternacht auf dem Weg nach Hause gewesen und an dem Geschäft Bijou Brigitte in der Osterstraße in Eimsbüttel vorbeigekommen, in dem sie arbeitet. Überall Polizisten, überall Scherben. Um drei Uhr ging es für sie schließlich ins Bett. „Das war richtig schlimm für mich“, sagt sie, „ich bin noch jetzt völlig fertig.“ Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Alle sind Hamburger, denen ein friedlicher Gipfel versprochen worden ist. Am Donnerstagabend eskaliert es.

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Der Autor dieser Zeilen wollte am Donnerstagabend eigentlich auf die Reeperbahn gehen und mit den Delegationen ins Gespräch kommen, die sich im Schlepptau der 19 Länder vergnügen wollten. Der Text konnte nie geschrieben werden. Die Gewalt hat Hamburg bis zur Drucklegung dieser Zeitung am Abend in eine Stadt verwandelt, die nicht mehr die Stadt der Hamburger ist. Es erinnert an Kriegszustände, und das ist nicht übertrieben. Jedenfalls nicht in Altona, Eimsbüttel, Schanzenviertel und St. Pauli.

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Das Fahrrad ist für alle Redakteure das Mittel der Wahl, spätestens, seit am Freitag U- und S-Bahnen ihren Verkehr in der Innenstadt einstellen, entgegen aller Beteuerungen im Vorwege. Busse fahren schon lange nicht mehr. Am Donnerstagabend wären sogar Sicherheitsschuhe besser gewesen. Auf St. Pauli und im Schanzenviertel liegen die Scherben an manchen Stellen bis zu den Knöcheln, vor der Roten Flora brennen die Müllcontainer, unter der Sternenbrücke fegt die Polizei mit Wasserwerfern den Platz frei. Ohrstöpsel wären auch nicht schlecht.

Polizeikolonnen im Minutentakt

Der Zeitraum zwischen zwei Polizeikolonnen mit Martinshorn ist höchstens eine Minute. Da kommen dann nicht zwei oder drei Wagen, nein, 20 oder gar 50. Und in die Gegenrichtung 30. Oder mit Wasserwerfern im Schlepptau. Dazwischen immer wieder HB 1 und HB 2, die Geschosse aus Bremen, die sich den Job mit den Wagen aus den anderen Bundeslängern teilen. Und solche Wagen, die wie Panzer mit Schneeschieber aussehen. Pech auch für die Friedlichen, die nicht rechtzeitig auf dem Baum sind.

Dabei stößt der Protest nicht überall auf Ablehnung. Auf St. Pauli machen es sich die Menschen gemütlich in den Kneipen und sitzen bis weit nach Mitternacht auf der Straße als Schaulustige. Wer keinen Platz abbekommen hat, trägt Sofas herunter. In der Clemens-Schulz-Straße öffnet ein Gebrauchtmöbelladen, jeder darf herausholen, was sich als Sitzmöbel eignet. Und immer wieder Polizeikolonnen. Als an der Talstraße ein Mannschaftswagen den anderen rammt, johlen und klatschen sie. Derweil brennen im Park die Mülleimer. Manchmal fliegen auch Feuerwerkskörper an den Gästen vorbei, wie vorm „Copa Cabana“ in der Hein-Hoyer-Straße.

Restaurantgäste machen Platz für Polizisten

Beifall bekommen auch die Einsatztrupps, die die Straßen rauf und runter rennen. In ihren schweren Monturen und mit Helm. „Hopp, hopp, hopp“, rufen die Zuschauer, oder „schneller, da hinten gibt‘s Freibier.“ Da stört es viele auch nicht, wenn sie, wie vor der „Trattoria 500“ von ihrer Pasta aufspringen müssen, weil die Polizeikolonne da durchsaust. Auf dem Neuen Pferdemarkt geben sich bayerische Beamte die Blöße, im Laufschritt zu stoppen und einen Stadtplan herauszuholen. Die Reaktion ist klar. Aber grausam für die Männer und Frauen, die einen unerträglichen Knochenjob machen. Allein in der Stresemannstraße stehen in dieser Nacht 240 Polizeiautos mit Blaulicht, sie müssen Gewalttäter in Schach halten.

WESER-KURIER-Fotografen wird Akkreditierung weggenommen

Die Stadt muss von oben beeindruckend aussehen. Manchmal gibt es auch für die Journalisten etwas zu lachen. Zum Beispiel über André Kramer aus dem Schanzenviertel, der mit seinem Plakat durchs Internet rotiert: „Ich bin Anwohner und gehe nur kurz zu Edeka. Danke“, steht darauf um zu verhindern, dass er angegriffen wird. Von wem auch immer.

Da leben die Journalisten im Messezentrum ganz gut. Vollverpflegung, gute Arbeitsbedingungen, der Gipfel kümmert sich um sie. Aber nicht um alle: WESER-KURIER-Fotograf Rafael Heygster zum Beispiel. Am Freitagnachmittag will er ins Pressezentrum, um sich auf den Abend vorzubereiten. Er hat eine der wenigen Chancen bekommen, in der Elbphilharmonie die Staatschefs zu fotografieren. Ein Highlight im Leben eines Fotografen, und vor allem für Heygster, der Fotojournalismus an der Hochschule Hannover studiert und für sechs Monate in der Redaktion ist. Am Eingang scannt der Sicherheitsbeamte seine Akkreditierung und nimmt sie ihm weg. „Sie haben jetzt keine mehr“, heißt es. Ohne Begründung. Auf Anordnung des Bundeskriminalamtes.

Ihm ist noch gesagt worden: „Sie können ja anwaltlich dagegen vorgehen.“ So wie ihn trifft es von den 4800 Journalisten noch drei, vier andere. Ein unzulässiger Angriff auf die freie Berichterstattung der Presse. Natürlich geht der WESER-KURIER dagegen vor, doch das Konzert hat am Abend ohne Heygster stattgefunden.

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