Jens Stoltenberg brauchte für das Drama keine Inszenierung. Anders als Russlands Präsident Wladimir Putin, der am Freitag mit einer pompösen Zeremonie im goldgeschmückten Georgssaal des Kremlpalasts die illegale Annexion von vier ukrainischen Gebieten feierte, genügten die Aussagen des Nato-Generalsekretärs, um auch im schmuck- und fensterlosen Pressesaal des Brüsseler Hauptquartiers eindringlich zu klingen. Es handele sich beim Vorgehen Moskaus um „die schwerste Eskalation seit Beginn der Invasion am 24. Februar“, sagte Stoltenberg. Dies sei „ein entscheidender Moment“. Den nutzte wiederum Wolodymyr Selenskyj für einen kühnen Schachzug: Der ukrainische Präsident unterschrieb den Antrag für einen beschleunigten Nato-Beitritt.
In seiner Antwort betonte Stoltenberg die Politik der offenen Tür des Verteidigungsbündnisses. Das Aber verpackte er in den Hinweis auf das Nato-Regelwerk. Eine Entscheidung über die Mitgliedschaft müsse von allen 30 Verbündeten getroffen werden, so der Norweger. Übersetzt bedeutete das ein höfliches Nein. Denn die Tür steht wie im Falle von Schweden und Finnland manchen Aspiranten offener als anderen, wo die Scharniere verzogen sind und auch so schnell nicht repariert werden dürften.
Das gilt für die Ukraine. Auch wenn sich gerade neun mittel- und osteuropäische Verbündete in einer gemeinsamen Erklärung dafür aussprachen, Kiew den Weg zur Nato-Mitgliedschaft zu ebnen, liegen die Chancen auf einen baldigen Beitritt bei null. Das ist vorneweg dem Konsens geschuldet, dass kein Land aufgenommen wird, das sich in einer ungelösten territorialen Konfliktsituation befindet. Für den Moment also bleibt die Option vom Tisch. Gleichwohl betonte Stoltenberg, man müsse die Ukraine weiter unterstützen und dürfe sich nicht vom nuklearen Säbelrasseln Putins davon abhalten lassen.
Im Jahr 2008 scheiterte die Ukraine – vor allem wegen der Haltung Deutschlands und Frankreichs – mit einem Antrag und erhielt stattdessen eine symbolische Beitrittsperspektive. Die jahrelang wie in leiernder Dauerschleife vorgetragene Begründung, man wolle Moskau nicht provozieren, klang wie Hohn nach dem russischen Angriff auf Georgien sowie nach der Annexion der Krim. Man hätte der Ukraine schon damals einen Aktionsplan für die Mitgliedschaft anbieten müssen. Stattdessen vermittelte das Bündnis eine fatale Botschaft an Putin, der die Nato-Verbündeten als schwach und uneinig einstufte – und die naive Hinhaltetaktik mit militärischen Überfällen bestrafte.
Putin hatte auch jetzt erwartet, dass sich die Nato in zwei Lager – hier die knallharten Falken, dort die samtweichen, zaudernden Tauben – aufteilen würde. Stattdessen hat die Allianz durch ihr geschlossenes, selbstbewusstes Auftreten ihre Daseinsberechtigung wiederentdeckt. Die neue Stärke wie auch das veränderte geopolitische Umfeld sollten ein fundamentales Umdenken innerhalb des Bündnisses auslösen.
Die Ukraine muss nicht nur von der EU, sondern auch seitens der Nato politisch enger an den Westen angebunden werden. Denn der Nationalismus und die imperialistischen Großmachtfantasien des russischen Aggressors werden auch in Zukunft die euro-atlantische Sicherheitsordnung infrage stellen und auf eine Destabilisierung der Ukraine abzielen – unabhängig davon, wie der Krieg endet. Bislang hält sich das Bündnis so weit wie möglich aus dem Rampenlicht heraus. Es sind die 30 Mitgliedstaaten, die militärische Ausrüstung und nachrichtendienstliche Erkenntnisse bereitstellen und die Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte übernehmen.
Wenn Stoltenbergs Beistand zwar vor allem politischer Natur ist, spielt die Nato hinter den Kulissen eine bedeutende Rolle bei der Koordinierung von Lieferungen und Versorgungswegen. Die Hilfe aus dem Westen wäre ohne das Bündnis weit weniger wirksam. Dass die Nato-Länder zumindest viel daran setzen, einen Sieg Russlands zu verhindern, ist alternativlos. Doch die Allianz sollte heute schon darüber nachdenken, wie sie sowohl die politische Unabhängigkeit als auch die territoriale Integrität der Ukraine über den derzeitigen Krieg hinaus gewährleisten kann. Das wird auf lange Sicht nur über eine Aufnahme der Ukraine gelingen.