Ein 15-jähriger Junge erzählt dem Reporter, wie ihn ein Priester drei Jahre zuvor missbraucht hat: „Er sagte, ich würde ein Mann Gottes werden. Er sagte, dass Männer Gottes so etwas tun. Es sei sehr gut und gar kein Problem.“ Viermal, erzählt der Junge weiter, habe sich der Geistliche innerhalb eines Monats an ihm vergangen. „Er sagte, es sei ein Geheimnis der Kirche. Es müsse unter uns bleiben.“
Es sind solche Sätze und Schicksale, die viele Menschen in der katholischen Kirche erschüttert haben. Sie stammen aus der Dokumentation „Das Schweigen der Hirten“, die Anfang des Jahres im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Diese Sätze und Schicksale waren Auslöser für das, was tausende Frauen in diesen und den nächsten Tagen überall in Deutschland tun werden. Sie streiken, versehen eine Woche lang keine kirchlichen Aufgaben und gehen nicht in die Gottesdienste.
Die Frauen in der katholischen Kirche haben, buchstäblich, den Kaffee auf, den sie sonst literweise als ehrenamtliche Helferinnen auf Pfarrfesten, Altennachmittagen und Pfarrgemeinderatssitzungen kochen. Stattdessen feiern sie nun Wortgottesdienste in Eigenregie und legen weiße Tücher aus in den Kirchenbänken, in denen sie sonst sitzen. Weiß für Trauer, weiß für Mitgefühl, weiß für Neubeginn.
Neubeginn – genau das ist es, was die katholische Kirche im Jahr 2019 braucht. Von einem Neubeginn, der von oben gewollt und vorangetrieben wird, ist aber wenig zu spüren. Der Eindruck, den die Kirchenoberen machen, ist ein anderer. Ihr Wille zur Aufklärung bei den Missbrauchsskandalen? Zaghaft. Ihre Bereitschaft zur Gleichstellung von Männern und Frauen? Nur in Ansätzen vorhanden. Ihre Absicht, Frauen zum Priesteramt zuzulassen? Gar nicht vorhanden. Stattdessen wird viel angekündigt und viel diskutiert, werden Ausschüsse gegründet und Kommissionen gebildet. Die verbale Bereitschaft ist groß, tatsächlich angepackt wird wenig. Vielmehr wirkt das ganze Verhalten wie ein Spiel auf Zeit.
Halbleer sind die Sitzbänke bei den Gottesdiensten
Dabei hat die Kirche keine Zeit zum Taktieren. Das Vertrauen der Gläubigen ist in den Grundfesten erschüttert. Man möchte die Kirchenführer an der Soutane packen, sie durchschütteln und fragen: Merkt ihr eigentlich gar nicht, was ihr da anrichtet? Merkt ihr nicht, dass ihr dabei seid, die treuesten und engagiertesten Glaubensschwestern und Brüder an der Basis zu verlieren? Seht ihr wirklich nicht, dass euer Wegschauen, euer Reden statt Handeln dafür sorgen wird, dass sich die katholische Kirche abschafft?
Schon jetzt ist ein Blick in die Gottesdienste an den Wochenenden ernüchternd. Halbleer sind die Sitzbänke. Die meisten der Kirchgänger sind über 70. Gottesdienstbesucher, die zwischen 18 und 35 Jahre alt sind, kann man an einer Hand abzählen. Ist das eine Überraschung? Nein. Als moralische Instanz, die Orientierung gibt, hat sich die katholische Kirche in den vergangenen Monaten und Jahren mehr oder weniger disqualifiziert.
Wenn die Kirche die Menschen zurückgewinnen will, dann muss sie sich ändern. Und damit ist nicht gemeint, dass sie dem Zeitgeist nachjagen soll oder jede Mode mitmacht. Predigten zu rappen, wird nicht die Lösung sein. Aber es wäre schon viel gewonnen, wenn die katholische Kirche im Jahr 2019 endlich ein paar Lebensrealitäten und weltliche Wahrheiten anerkennen würde: Zum Beispiel, dass Ehen zerbrechen können, dass Frauen heute alles machen, dass es Männer gibt, die Männer lieben, und dass das nicht widernatürlich oder Sünde ist.
Vielleicht ist ja noch nicht alles verloren. An der Basis nämlich, in vielen Ortsgemeinden, machen die Haupt- und Ehrenamtlichen engagierte und oft herausragende Arbeit: in kirchlichen Kindergärten, bei Pflegediensten und Beratungsstellen, in Altenheimen und Krankenhäusern. Gemeindearbeit in Jugendgruppen, Zeltlagern und Flüchtlingstreffs ist Sozialarbeit.
Wenn die katholische Kirche stirbt, geht viel verloren. Wer die Botschaft Jesu so lebt, wie sie gemeint ist, der steht für Nächstenliebe, Rücksicht und Solidarität mit den Schwachen. Und das sind Werte, die den Menschen in Deutschland und auf der ganzen Welt im Jahr 2019 gut zu Gesicht stünden. Eine entchristlichte Gesellschaft kann sich deshalb niemand ernsthaft wünschen. Eine entchristlichte Gesellschaft wäre eine ärmere Gesellschaft.
Wie gut deshalb, dass nun die Frauen die Dinge selbst in die Hand nehmen. Kirche braucht diesen Druck, diesen Konflikt, der sichtbar wird. Kirche braucht dieses öffentliche Ringen um eine ehrliche Erneuerung. Es ist ihre letzte Chance.