Nachdem der deutsche Kardinal Joseph Ratzinger am 20. April 2005 zum Papst gewählt worden war, titelte die "Bild"-Zeitung: "Wir sind Papst." Heute müsste die Schlagzeile wohl anders lauten, etwas überspitzt gesagt: „Wir sind Vertuschung." Denn seit am Donnerstag in München das Gutachten der renommierten Kanzlei Westphal–Spilker–Wastl“ vorgestellt wurde, ist klar: Auch Ratzinger hat in seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising in insgesamt vier Fällen Missbrauch vertuscht. Offensichtlich sah er kein Problem darin, Täter weiter in der Pfarreiseelsorge einzusetzen, wo sie – wie im Fall des notorischen Pädophilen Peter H. – weiter Missbrauch begehen konnten.
Missbrauchsfälle: Kardinal Joseph Ratzinger streitet ab
Ratzinger selbst streitet bis heute alle Kenntnisse des Falls Peter H. ab – obwohl die Münchner Juristen in den Unterlagen ein Protokoll einer Sitzung fanden, an der der damalige Kardinal teilgenommen hatte und bei dem der Wechsel von H. nach München eine Rolle spielte.
Auf das Bild des von liberalen Katholiken ohnehin nie besonders geliebten deutschen Papstes Benedikt XVI. fällt mit dem Gutachten deswegen ein Schatten. Wie fast alle Führungspersönlichkeiten der katholischen Kirche in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg hat auch er vertuscht, war auch er Teil des Systems, hat auch er die Täter geschützt, zeigte er keine Empathie mit den Betroffenen. Was das Münchener Gutachten tatsächlich auch allen Erzbischöfen des Bistums seit dem Zweiten Weltkrieg attestierte.
Das macht wieder einmal deutlich, dass die katholische Kirche als Institution versagt hat. So wie es schon die MHG-Studie oder die Untersuchung für die Erzbistümer Berlin, Köln und Aachen zeigten. Das nimmt der Kirche aber auch jene ethisch-moralische Glaubwürdigkeit, die für ihre gesellschaftliche Stellung bis heute entscheidend ist.
Doch das Münchner Gutachten ist schwerwiegender: Dass man in der Kirche nicht einmal vor offensichtlichen Falschaussagen zurückgeschreckte, um Würdenträger vor dem berechtigten Zorn der Betroffenen und der Öffentlichkeit zu schützen, zeigt, wie verdorben die Organisation bis in die jüngste Zeit gewesen ist. Auch für Kenner der kirchlichen Szene war es bis zum Donnerstag nur schwer vorstellbar, dass es im Erzbistum München und Freising Kräfte gegeben haben soll, die den ehemaligen Generalvikar Gerhard Gruber dazu drängten, alle Schuld auf sich zu nehmen, um Benedikt zu schützen.
Tritt Kardinal Marx zurück?
Und Kardinal Reinhard Marx? Auch er wird sich über seine künftige Rolle Gedanken machen müssen. Denn auch ihm unterstellt das Gutachten Fehlverhalten – aber anders als im Fall des Kölner Kardinals Rainer Maria Woelki, der zwar durch das von seinem Erzbistum in Auftrag gegebene Gutachten entlastet wurde, aber gleichzeitig sein Erzbistum mit Pauken und Trompeten an die Wand gefahren hat. Sicher, Marx hat im vergangenen Jahr seinen Rücktritt angeboten, und Franziskus hat ihn abgelehnt. Und dennoch wäre es nicht überraschend, würde Marx diesen Schritt in der kommenden Woche erneut gehen – denn nach diesem Gutachten ist auch der Münchner Kardinal und frühere Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz erkennbar angeschlagen.
Insgesamt zeigt die Studie vor allem eines: Es macht deutlich, dass es ein kategorischer Fehler des Staates ist, die Aufarbeitung den Kirchen allein zu überlassen. Nein, es braucht zwingend eine Enquetekommission des Bundestags oder eine staatliche Wahrheitskommission, die das Missbrauchsthema noch einmal von außen angeht.
Denn die Münchner Gutachter haben recht: Auch bei der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs drängt die Zeit. Wer in den 60er- oder 70er-Jahren als Kind oder Jugendlicher missbraucht wurde, kommt allmählich ins Rentenalter – und zahlreiche Täter sind bereits gestorben. Hier braucht es mehr Ernsthaftigkeit, mehr Tempo und mehr Energie und eine staatliche Einrichtung, die sich mit noch deutlich mehr Kompetenzen als der unabhängige Beauftragte um das Thema sexueller Missbrauch kümmert. Und zwar nicht nur in den Kirchen.