Bei neuen Protesten rechter und linker Demonstranten in der Chemnitzer Innenstadt sind am Montagabend mindestens sechs Menschen verletzt worden. Es seien Feuerwerkskörper und Gegenstände geworfen worden, hieß es bei der Polizei. Nach Ende der beiden Demonstrationen räumte ein Polizeisprecher Personalmangel in den eigenen Reihen ein.
Anlass der Proteste waren gewalttätige Ausschreitungen am Wochenende am Rande des Stadtfestes in Chemnitz. Auslöser dafür war, dass ein 35 Jahre alter Deutscher durch Messerstiche getötet worden war. Gegen einen 23 alten Syrer und einen 22 Jahre alten Mann aus dem Irak wurde Haftbefehl erlassen.
Der Städte- und Gemeindebund kritisierte die von der Polizei eingeräumte Unterbesetzung bei den jüngsten Demonstrationen in Chemnitz. "Das ist ein schlechtes Zeichen für den starken Rechtsstaat", sagte Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg dem "Handelsblatt" (Dienstag). "Hier müssen die Konzepte nachgebessert werden, damit sich derartige Ereignisse nicht wiederholen."
An den Demonstrationen am Montagabend nahmen mehrere Tausend Menschen teil. Die Polizei versuchte mit einem Großaufgebot die von Rechten dominierte Protestveranstaltung und eine vom Bündnis "Chemnitz nazifrei" organisierte Veranstaltung zu trennen. Die Polizei ermittelt gegen zehn Personen, die den Hitlergruß gezeigt haben sollen. Auch in Düsseldorf versammelten sich wegen der tödlichen Messerstiche in Chemnitz rund 150 Demonstranten aus dem rechten Spektrum vor dem Landtag, wie die Polizei berichtete. Ihnen standen etwa 250 Gegendemonstranten gegenüber.
Warnung vor zunehmender Selbstjustiz
Der Grünen-Politiker Konstantin von Notz nannte den Umgang von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) mit den Vorfällen in Chemnitz skandalös. Er kritisierte, dass Seehofer dazu seit Tagen schweige. "Der Bundesinnenminister muss sich fragen lassen, ob das Amt für ihn noch das richtige ist", sagte der Innenpolitiker am Dienstag dem Nachrichtenportal t-online. Der innenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Konstantin Kuhle, erklärte: "Als Bundesinnenminister ist es Seehofers Pflicht zu erklären, welche Konsequenzen er aus den Ausschreitungen in Chemnitz ziehen will."
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) warnte vor dem Risiko zunehmender Selbstjustiz. "Der Staat ist dafür da, mit Polizei und Justiz seine Bürger zu schützen", sagte der GdP-Bundesvorsitzende Oliver Malchow der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (Dienstag). "Wenn er das in den Augen vieler Bürger aber nicht mehr leisten kann, besteht die Gefahr, dass die Bürger das Recht selbst in die Hand nehmen und auf Bürgerwehren und Selbstjustiz bauen." Dies sei ein erschreckender Trend. Über die sozialen Medien könnten viele Menschen schnell mobilisiert werden. "Aus jeder Dorfschlägerei kann eine Hetzjagd werden."
Nach Ansicht der GdP hat der Staat mit Schuld an dieser Entwicklung. Der jahrelange Abbau von insgesamt 16.000 Stellen bei der Polizei habe dazu geführt, dass alle Einsatzkräfte stets verplant seien. Die GdP fordere 20.000 neue Stellen.
Nach den jüngsten Ausschreitungen in Chemnitz wächst die Kritik an zunehmender Aggression und Gewaltbereitschaft gegen Zuwanderer. "Der Rassismus bricht sich unverhohlen Bahn", sagte der Experte für Rechtsextremismus der Amadeu Antonio Stiftung, Robert Lüdecke, der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. "Die Gesellschaft ist stark polarisiert, Menschen äußern immer unverhohlener, welche Menschen sie in Deutschland haben möchten und welche nicht." In den sozialen Netzwerken werde ungehemmt gehetzt.
Generalstaatsanwalt ermittelt
Gerade die rechtsextreme Szene ist aus Sicht Lüdeckes sehr gut vernetzt. "Sie haben inzwischen leider auch jahrelange Erfahrungen, wie sie schnell mobilisieren können." Soziale Netzwerke spielten dabei eine entscheidende Rolle, "um auch über den eigenen Dunstkreis hinaus Mitstreiter für Demonstrationen und andere Aktionen zu finden". In Chemnitz gebe es eine organisierte rechtsextreme Szene und "das klassische Pegida-Mitläufertum", unterstützt durch die Hooligan-Szene.
Auch der sächsische Verfassungsschutz hält eine Beteiligung regionaler Hooligan-Gruppierungen an den Ausschreitungen für möglich. "Diese Szene war auch in der jüngeren Vergangenheit wiederholt beteiligt an gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Personen mit Migrationshintergrund", sagte Verfassungsschutzpräsident Gordian Meyer-Plath der "Rheinischen Post" (Dienstag).
Teil der regionalen gewaltbereiten rechtsextremistischen Szene seien "aus dem Umfeld des lokalen Fußballvereins agierende, feste rechtsextremistische Hooligan-Strukturen", wie etwa die "NS-Boys" oder die Gruppe "Kaotik Chemnitz". Der sächsische Generalstaatsanwalt Hans Strobl lässt die Sondereinheit "Zentralstelle Extremismus Sachsen" ermitteln. (dpa)