Es gehört schon eine gewisse Dreistigkeit dazu, mit „medizinischen Lappalien“ (Kassenärztliche Vereinigung) die Notaufnahme aufzusuchen, weil man keine Lust hat zu warten oder die Beschwerden nicht zu ertragen meint, bis der Hausarzt öffnet. Das geschieht fortgesetzt, auch in Bremen. Indes sind solche „Komfortpatienten“ keine bremischen Gewächse, es gibt sie überall, wie die Kassenärztliche Vereinigung (KV) auf Bundesebene vor knapp einem Jahr nach einer Befragung von Versicherten feststellte. Das ist ein schwacher Trost, zumal er keine Antwort auf die grundsätzliche Frage bietet: Was scheint mehr und mehr Menschen dazu zu bringen, es sich leicht und anderen – dem überlasteten Personal in überfüllten Notaufnahmen – schwer zu machen? Wie wenig Distanz muss man zu sich selbst haben, wenn man mit Nichtigkeiten Notdienste belästigt?
Dafür verantwortlich ist vermutlich dieselbe gedankenlose Selbstsucht, die einige Verkehrsbetriebe dazu veranlasst hat, Piktogramme entwerfen zu lassen, die veranschaulichen sollen: Pro Fahrgast ist ein Sitzplatz vorgesehen, für die Tasche hat der liebe Gott oder die Evolution dem Menschen den Schoß als Ablagefläche mitgegeben. Dass daran seit Neuestem in Bahnen erinnert werden muss, entspricht auch anderen Auffälligkeiten in der Öffentlichkeit und im Umgang mit fremdem Eigentum aller Art – die immer zuvorkommend ausfallen, gegen sich selbst. Von „urbaner Dekadenz“ schrieb der „Cicero“-Kolumnist Frank A. Meyer vor wenigen Jahren und von der „Generation Smartphone“, die Freiheit mit Grenzenlosigkeit verwechsle.
Von der Ellenbogen- zur Eigennutzgesellschaft
„Ellbogengesellschaft“ wurde schon 1982 zum Wort des Jahres gekürt. Dabei ist es bei ihren Kindern nicht geblieben, heute scheinen die Ellbogen (und, siehe Bahn, die Knie) nicht einmal bewusst ausgestreckt zu werden, um schneller ans Ziel zu gelangen. Sie sind automatisch ausgefahren, von Geburt an, aus der Ellbogen- ist eine Eigennutzgesellschaft geworden. Ihr Grundsatz: Natürlich komme ich selbst zuerst, aber, hey, ich mein’s nicht böse.
Den Deutschen geht es so gut wie nie zuvor. In Freiheit und Frieden, Wohlstand und Demokratie groß zu werden, wird nicht mehr als pures Glück und Gnade der Geburtsstunde und des -orts verstanden, sondern als Mitgift ins Leben vorausgesetzt. Entsprechend wird tatsächliches und vermeintliches Leid dramatisiert, dazu verwendet wird die Sprache der Weicheier, die von Superlativen bestimmt wird: Der Andrang im Supermarkt war der Horror. Die Eltern machen Terror. Wenn’s irgendwo sticht, piekst oder juckt, handelt es sich um einen krassen Notfall.
Grundsätzlich und generationsübergreifend ist der Deutsche ziemlich um sich selbst besorgt. In der „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ mahnten die Experten Johannes Wimmer und Robin Haring vor wenigen Wochen: „Deutschland ist Arzt-Weltmeister. Niemand sitzt häufiger im Wartezimmer, schluckt mehr Medikamente, wird öfter geröntgt oder operiert.“ 18-mal im Jahr besuchen Deutsche danach durchschnittlich den Arzt, ältere Menschen 50- bis 60-mal. Vor allem Privatpatienten strebten nach „umfangreicher medizinischer Zuwendung“. Dabei führten „Übertherapien und Fehldiagnosen“ nur dazu, so die Autoren, „dass überversorgte Patienten nicht länger leben, sondern nur zufriedener sterben“.
Sich selbst in Watte packen
Der Durchschnittsdeutsche packt sich selbst in Watte, damit lässt sich gut Geld verdienen: In den vergangenen Jahren ist eine ganze Achtsamkeitsindustrie entstanden, die ihre Kunden durch Bücher und Kalender, Seminare und Zeitschriften dazu nötigt, fortwährend in sich hineinzuhorchen: Wie fühle ich mich? Was fehlt mir und was könnte mir fehlen? Auf sich selbst zu achten, ist nicht falsch. Aber jene, die dabei in erster Linie Nachhilfe brauchen, wie berufstätige Alleinerziehende, pflegende Angehörige oder Menschen mit mehreren Jobs, haben in der Regel schlicht keine Zeit, Mandalas bunt auszumalen oder sich in Bücher mit solchen Titeln zu vertiefen: „Am Arsch vorbei geht auch ein Weg: Wie sich dein Leben verbessert, wenn du dich endlich locker machst“.
Wohl nicht von ungefähr sind es laut der KV-Befragung mehr junge Menschen, die bei Beschwerden am Abend oder am Wochenende die Notaufnahmen bevölkern. Ausgerechnet sie wissen sich scheint’s nicht anders zu helfen, obgleich sie, mit dem Smartphone verwachsen, das Wissen der Welt in den Händen tragen. Ausgerechnet sie, deren Generation ganz versessen darauf ist, dass Tätowierer sie gegen Geld piesacken und bluten lassen. Muss man unheilbarer Spießer sein, um sich zu fragen: Ist das nicht … krank?