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Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor im Interview „Wir stehen mittendrin, nicht am Rand“

Leitkultur, Religion als Konfliktstoff und ein Zeichen gegen Terror
15.06.2017, 00:00 Uhr
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„Wir stehen mittendrin, nicht am Rand“
Von Hans-Ulrich Brandt

Frau Kaddor, stimmen Sie der folgenden These zu? „Unser Land ist christlich geprägt. Wir leben im religiösen Frieden. Und die Grundlage dafür ist der unbedingte Vorrang des Rechts über alle religiösen Regeln im staatlichen und gesellschaftlichen Zusammenleben.“

Lamya Kaddor: Dem kann ich voll zustimmen.

Wissen Sie, wer das geschrieben hat?

Irgendwelche AfDler? Der Bundespräsident? Wer hat es gesagt, verraten Sie es mir.

Es war Bundesinnenminister Thomas de Maizière, und zwar in seinen Thesen zur Leitkultur in Deutschland.

Ah ja! Und „wir sind nicht Burka“ hat er auch gesagt.

Stimmt. Der Innenminister verteidigt den Begriff Leitkultur und fordert eine breite Debatte. Was halten Sie davon?

Was soll er auch sonst machen als Innenminister, aber das ist eine Kurzdebatte. Das hat Bundestagspräsident Norbert Lammert bereits gesagt. Wir führen sie in regelmäßigen Abständen, meistens kurz vor den Wahlen. Das bringt uns in der Sache aber nicht wirklich weiter.

Wer in arabische Länder reist, merkt schnell: Wer dort leben oder auch nur Urlaub machen will, darf gerade die religiösen Regeln nicht missachten. Was ist das anderes als Leitkultur?

Ich finde, das ist schon noch etwas Anderes. Oder würden Sie die Regierungsformen und Gesellschaften der arabischen Länder auf eine Stufe mit denen Deutschlands stellen? Vieles in den arabischen Ländern ist von anderen Bräuchen dominiert, anderen gesellschaftlichen Normen, weniger durch Gesetze.

Aber sind das nicht doch meist religiöse Normen?

Auch, in bestimmten Staaten mit Sicherheit. Ich würde das aber nicht unbedingt als Leitkultur verstehen. Leitkultur ist für mich das Definieren von Normen und Gepflogenheiten. Und bis zu einem gewissen Grad gehören auch landestypische Rituale dazu, die über die Gesetze hinweg gelten. Natürlich ist Religion dabei ein Faktor, das ist er aber auch hier in Deutschland.

Sie haben den Satz von Thomas de Maizière eben schon genannt: „Wir sind eine of­fe­ne Ge­sell­schaft. Wir zei­gen unser Ge­sicht. Wir sind nicht Burka“, hat er gesagt. Sind Sie damit auch einverstanden?

Nein. Natürlich zeigen wir unser Gesicht, das sehe ich auch so. Ich möchte auch in das Gesicht meines Gesprächspartners schauen. Aber ich finde es gefährlich, im Kontext einer Debatte über Leitkultur einen nicht einmal vollständigen Satz zu verwenden, obwohl man gleichzeitig proklamiert, man müsse in Deutschland ordentlich Deutsch sprechen. Ebenso den Versuch, Identität durch Abgrenzung bilden zu wollen. Wir haben hier doch kaum Frauen, die Burka tragen. Damit spielt man nur Populisten in die Karten, gibt dieser Stimmung Auftrieb. Das hat der Innenminister gar nicht nötig, deshalb hat es mich auch so verwirrt. Und es ist eben Wasser auf die Mühlen derer, die gegen eine offene Gesellschaft sind. Aber wahrscheinlich hat es Thomas de Maizière genau aus diesem Kalkül gemacht: um Stimmen am rechten Wählerrand einzusammeln.

Es fällt auf, dass in den öffentlichen Debatten ständig sehr aufgeregt über Glauben und Religion gesprochen wird, viel mehr als noch vor zehn Jahren. Dabei leben wir in einem säkularen Land. Warum ist Religion immer weniger Privatsache?

Es stimmt, wir leben in einer Gesellschaft, in der das Christentum zunehmend säkularisiert wird. Die Zahl der Kirchenaustritte belegt das. Das heißt jetzt nicht, dass es keine gläubigen Christen in Deutschland mehr gibt…

… aber ein Drittel sind Atheisten.

Genau. Wir leben also in der westlichen Welt in einer Zeit, wo die Religion nur sehr bedingt zum Lifestyle gehört, eher im Gegenteil. Gleichzeitig werden wir zunehmend mit dem Glauben von hier lebenden Minderheiten konfrontiert, zum Beispiel mit der muslimischen Gemeinschaft, die durchaus einen stärkeren Draht zur Religion hat; die ihren Glauben betont. Ob wir das nun mögen oder nicht – wir müssen erkennen: Manche dieser Menschen identifizieren sich sehr stark mit ihrem Glauben. Und das verschafft dem Islam unweigerlich eine erhöhte gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Gleichzeitig wird uns der Spiegel vorgehalten, und wir reflektieren unser Verhältnis zur christlichen Religion. Das ist aber doch auch gar nicht so schlecht.

Es ist doch völlig egal, woran die Menschen glauben. Warum muss Religion mit einer oft so rechthaberischen Attitüde in die Öffentlichkeit gezerrt werden?

Wahrscheinlich, weil Religion ein so wunderbarer Konfliktstoff ist (lacht). Das ist schon seit Jahrtausenden so.

Ja, aber es wird in diesem Streit nie eine Lösung geben.

Das ist ja das Frustrierende daran. Es geht nicht darum, dass ich Sie oder Sie mich überzeugen. Es geht einzig und allein darum, dass wir beide friedlich nebeneinander und miteinander leben können.

Mir scheint, der so öffentlich hervorgekehrte Glaube wirkt wie ein Spaltpilz in unserer Gesellschaft. Er erschwert Integration, verhindert sie manchmal sogar?

Ich denke, wenn jemand seinen Glauben lebt, behindert das nicht unbedingt die Integration. Aber wenn der Glaube öffentlich dauernd kommentiert wird, ist das ein Problem. Wir scheinen plötzlich in einem Land zu leben, in dem alle Islam-Experten sind. Alle reden darüber. Warum eigentlich? Der Islam ist ein monotheistischer Glaube wie jeder andere auch.

Sie engagieren sich vorneweg beim Liberal-Islamischen Bund. Welche Ziele verfolgt dieser Verein?

Wir verorten uns im liberalen Flügel innerhalb des islamischen Glaubensspektrums. Uns geht es vor allem um eine sinngemäße Interpretation der heiligen Texte.

Das behaupten doch alle, gerade auch Fundamentalisten.

Aber ich glaube, wir machen es auch.

Wer engagiert sich denn da genau?

Zum Beispiel ist Rabeya Müller darunter, eine Imamin. Sie ist die Vorbeterin bei geschlechtergemischten Gebeten. Bekannt sind auch Lale Akgün, die ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete, und die Schriftstellerin Hilal Sezgin, um nur einige zu nennen.

Wie viele Mitglieder hat der Verein?

Etwa 200 im Moment. Uns ist wichtig, Geschlechtergerechtigkeit zu predigen und Homophobie etwas entgegenzustellen. Wir setzen uns ein für gemeinsame Gebete beider Geschlechter und nicht zuletzt für interreligiöse Eheschließungen. Das ist ein wichtiges Thema, immer wieder haben wir Menschen, die fragen: Ich will einen Moslem heiraten, und wir würden gerne nicht nur christlich, sondern islamisch heiraten. Das macht dann unsere Imamin Rabeya Müller.

Es heißt über Sie, Sie wollten den liberalen, aufgeklärten Muslimen in Deutschland eine Stimme geben. So richtig geglückt ist Ihnen das aber wohl noch nicht, müssen sich doch die Muslime hierzulande noch immer vorhalten lassen, sie würden ihre Stimme nicht laut genug gegen islamistischen Terror erheben?

Ja, aber das stimmt eben nicht. Wer genau schaut, was die muslimischen Verbände in Deutschland machen, der merkt, dass sie sich nach jedem Anschlag zu Wort melden, geradezu routinemäßig.

Aber Sie planen doch am Sonnabend in Köln einen gemeinsamen Friedensmarsch der Muslime, weil Ihnen das noch nicht genug ist. Oder habe ich Sie falsch verstanden?

Nein, haben Sie nicht. Wir machen das, weil wir glauben, dass nach der 50. schriftlichen Positionierung der Verdacht aufkommen kann, dass das inflationär von Muslimen gebraucht werden könnte. Dem wollen wir mit dem Friedensmarsch entgegenwirken. Wir wollen der Gesellschaft klarmachen, wo wir stehen, nämlich mittendrin. Wir stehen nicht am Rand. Wir müssen zusehen, dass die Islamisten an den Rand gedrängt werden. Die Mehrheit der hier lebenden Muslime sind friedliebende Menschen.

Die Berliner Anwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ates eröffnet bald eine liberale Moschee, in der nicht konservative Imame predigen, sondern fortschrittliche. Was halten Sie von dieser Idee?

Die finde ich super, das macht den liberalen Flügel des Islam sichtbarer.

Es sollte zu denken geben, wenn aus Syrien geflohene Muslime erklären, in den Moscheen ihres Heimatlandes würde liberaler gepredigt als hier. Muss es also nicht dringend eine Gegenbewegung der liberalen Muslime in Deutschland geben?

Natürlich sollte der liberale Islam gestärkt werden, deswegen habe ich vor sieben Jahren mit Freunden diesen ersten Verein, den LIB, gegründet, um dem liberalen Islam in Deutschland ein Gesicht zu geben. Sehen Sie, ein Merkmal liberaler Muslime ist ja gerade, dass sie sich nicht als Erstes und ausschließlich als Muslim sehen. Sie haben noch andere, vielleicht sogar wichtigere Identitäten. Genau deshalb ist auch nicht ihr erster Gedanke, sich einem islamischen Verein anzuschließen.

Eine Großdemonstration gegen den Terror ist sicherlich ein gutes Signal. Was aber wollen Sie tun, damit die liberalen Kräfte des Islam in Deutschland nachhaltiger gestärkt werden?

Das ist nicht der Zeitpunkt für diese Debatte. Uns geht es darum, für die Demo innerhalb der muslimischen Gemeinschaft und innerhalb der Gesamtgesellschaft ein möglichst breites Bündnis zu aktivieren. Deshalb haben wir sie auch als Privatperson angemeldet. Ich mache das nicht über den Liberal-Islamischen Bund, denn dann würden sofort einige sagen: Denen schließen wir uns nicht an. Die innerislamischen Differenzen wollen wir bewusst außen vor lassen. Ich wünsche mir von meinen Glaubensgeschwistern, dass wir hier zusammenstehen. Auf jeden einzelnen kommt es an. Sie sollen nach Köln kommen. Wir können uns bei anderer Gelegenheit streiten, tun das ja auch. In dieser einen Sache aber muss vollständig klar sein, dass alle Muslime ein Problem mit Gewalt und Terror haben und für ein friedliches Zusammenleben in dieser Gesellschaft stehen.

Das Interview mit Lamya Kaddor führte Hans-Ulrich Brandt am Rande der von der Konrad-Adenauer-Stiftung in der St-Remberti-Gemeinde Bremen organisierten Veranstaltung.

Zur Person

Zur Person:
Lamya Kaddor geboren 1978 in Ahlen, ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin und Publizistin. Sie gehört zu den Gründungsmitgliedern des Liberal-Islamischen Bundes und will aufgeklärten Muslimen eine Stimme geben.
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