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Diako-Gesundheitsimpulse Wie Bremer Kinder gegen Fettleibigkeit kämpfen

In einem einjährigen Kursus versuchen Kinder und Jugendliche mit Gewichtsproblemen, überschüssige Pfunde loszuwerden. Das Programm "Starke Kinder - Starker Bremer Westen" steht auf drei Säulen.
26.03.2023, 13:00 Uhr
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Wie Bremer Kinder gegen Fettleibigkeit kämpfen
Von Ulrike Troue

In der Pandemie hat laut einer Forsa-Umfrage unter 1000 Eltern bundesweit jedes sechste Kind an Gewicht zugelegt. Die vielen Beschränkungen, der Lockdown und Homeschooling haben offensichtlich dazu geführt, sich das Unangenehme im Alltag zu versüßen oder Sorgen sprichwörtlich in sich hineinzufressen.

“Corona ist einschneidend gewesen”, gibt Gesundheitswissenschaftlerin Angelika Junge die Erfahrung von elf Bremer Familien wieder, deren Kinder unter Adipositas – Fettleibigkeit – leiden und die sich zur Teilnahme am Programm “Starke Kinder – Starker Bremer Westen” der Diako-Gesundheitsimpulse entschlossen haben. Sieben Mädchen und vier Jungen, zwischen zehn und 14 Jahre alt, wollen in dem einjährigen Projekt überflüssige Pfunde loswerden, aus denen sich körperliche Probleme entwickeln können. "Eine innere Verweigerungshaltung bringt nichts", betont die Projektleiterin die wichtige Bedeutung der Freiwilligkeit.

Fettleibigkeit ist gefährlich

"Grundsätzlich schränkt starkes Übergewicht die körperliche Leistungsfähigkeit ein – bei Kindern wie bei Erwachsenen", sagt Viszeralchirurgin Elena Junghans. Schon geringe Anstrengungen können nach Aussage der Oberärztin für Adipositaschirurgie am Diako das Herz-Kreislauf-System überfordern, zu Atemnot, beschleunigtem Puls, Schwitzen und schnellerer Erschöpfung führen. In extremen Fällen sogar zu einer Bewegungsunfähigkeit. Mögliche Folgen seien die Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) sowie die Vorstufe (Insulinunempfindlichkeit) und deren Begleiterkrankungen, ebenso Atemnot und Kurzatmigkeit im Schlaf. "Auch orthopädische Probleme wie Rückenschmerzen – vor allem in der Lendenwirbelsäule – und Kniebeschwerden können auftreten", erklärt Elena Junghans.

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Sie weist darauf hin, dass Jugendliche mit Übergewicht zu Beginn der Pubertät häufig größer als Jugendliche im gleichen Alter mit Normalgewicht seien. Dafür falle jedoch ihr Wachstumsschub in der Pubertät geringer aus. Junghans ergänzt: "Adipositas gibt es schon bei Babys." Deshalb sollten Eltern grundsätzlich auf das Gewicht ihrer Kinder achten – von Anfang an. Je älter die Kinder werden, desto größer ist der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Übergewicht. Das belegt auch die Langzeitstudie des Robert Koch-Instituts zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland.

So wird Übergewicht errechnet

Als Indikator für Übergewicht und Adipositas, also krankhaftes Übergewicht, nennt Angelika Junge den Body-Mass-Index (BMI). Dabei wird das Körpergewicht in Relation zur Körpergröße gesetzt. Bei Kindern und Jugendlichen wird Übergewicht nach Auskunft von Elena Junghans immer in Bezug auf die Körpergröße und im Verhältnis zu Gleichaltrigen beurteilt  und die sogenannte Perzentille als statistische Vergleichsgröße herangezogen. 

"Übergewicht ist eine Vorstufe der Adipositas. Bei einer BMI-Perzentille von 90 bis 97 spricht man von Übergewicht, bei einer BMI-Perzentille von 97 bis 99,5 von Adipositas und bei einer BMI-Perzentille von mehr als 99,5 von extremer Adipositas", so die Viszeralchirurgin. Wenn also 97 Prozent der Kinder mit gleicher Körpergröße leichter sind, spricht man von Adipositas, weil das Gewicht des Kindes über der 97. Perzentille liegt. "Wenn der Verdacht auf Adipositas besteht, sollte sofort die Kinderärztin aufgesucht werden", rät die Oberärztin der Adipositaschirurgie. "Denn Übergewicht und Adipositas sind in der Regel voranschreitend", so Elena Junghans, "das heißt, das Gewicht nimmt im Laufe der Jahre weiter zu."

Nachhaltige Verhaltensänderung

Letztlich führe der Weg aus der Fettleibigkeit nur über eine Verhaltenstherapie, bekräftigt Fachärztin Elena Junghans. "Weniger als 50 Prozent der Drei- bis Fünfjährigen erreichen die Bewegungsempfehlungen pro Tag, die von der WHO ausgesprochen wurden." Dazu zählen unter anderem drei Stunden Bewegung pro Tag. Genau dort setze das Programm "Starke Kinder – Starker Bremer Westen" an: Ernährungsumstellung, Bewegung und Beratung.

Das Angebot verteilt sich auf 60 verbindliche Termine. Jeden Mittwoch setzen sich die Jugendlichen abwechselnd mit Ernährungs- oder psychosozialen Themen auseinander. Freitags können sie im Rahmen einer Kooperation mit Dritons Dance School Hip-Hop tanzen. Bei diesem Programm, das 2010 zum ersten Mal angeboten wurde und das bisher 56 Mädchen und 37 Jungen durchlaufen haben, wird zu Beginn bewusst kein Abnehm-Ziel festgelegt. “Es ist auch schon ein Erfolg, wenn das Gewicht in dem Jahr einfach nur gehalten wird – und die Kids einfach weiterwachsen", findet Angelika Junge.

Eltern als Vorbild

Die Eltern sind in den ersten neun Monaten des Programms alle 14 Tage dabei, danach einmal im Monat. Denn teilweise sind sie ebenfalls übergewichtig, “in der Regel mindestens ein Elternteil”. Angelika Junge spricht die "authentische Vorbildfunktion" an: “Es ist sinnvoll, dass zu Hause gesund eingekauft und gekocht wird. Nicht nur die Kinder sollten Gesundes essen." Als erste Ansatzpunkte für eine dauerhaft gesunde Ernährung zählt sie spontan auf: “Reichlich Wasser trinken, Vollkornprodukte und regelmäßig Obst und Gemüse essen sowie feste Mahlzeiten.”

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Weil man sich praktische Beispiele besser merkt, lädt Gesundheitswissenschaftlerin Angelika Junge die Jugendlichen überdies zur Teilnahme an zweistündigen Kochevents ein. Fast immer sind sie vollzählig, weil sie Spaß daran haben. Heute bereiten die in Kleingruppen eingeteilten Mädchen und Jungen einen Karotten-Ingwer-Smoothie, eine Thai-Curry-Suppe mit Brokkoli und eine fluffige Beeren-Creme zu, die sie am Ende gemeinsam an einem Tisch genüsslich verspeisen.

In diesem Durchlauf kann Angelika Junge zum ersten Mal sechs statt nur zwei Kochtermine anbieten. Das ermögliche eine Spende der Kampagne “Orte der Wärme” der Bremischen Evangelischen Kirche und der Diakonie. „Ich würde solche Events gerne öfter durchführen, denn die Kinder lernen so mit Spaß, wie gesunde Ernährung praktisch aussehen kann." 

Übergewicht belastet die Seele

Nicht nur ihr Übergewicht, sondern auch die damit verbundenen Probleme belasten viele junge Betroffene. Die psychosoziale Beratung ist daher das dritte wichtige Standbein des Programms. Die Projektleiterin hat das Grundkonzept für die seelische Gesundheit bedarfsgerecht ausgeweitet. Für die Eltern sind statt zuvor zwei kurzer nun regulär drei längere Gespräche mit einem Diplom-Psychologen vorgesehen. Zunächst gibt es das unverbindliche Vorgespräch im Beisein des Kindes. Dabei versucht der Psychologe, “familiäre systemische Brennpunkte” auszuloten.

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Er schaut zum Beispiel, welche Rolle das Kind in der Familie einnimmt oder ob Eltern zu wenig Zeit für ihr Kind haben. Auf mögliche Probleme geht Jan Jansen dann im zweiten Gespräch nur mit den Eltern ein. In der zweiten Projekthälfte folgt das dritte Elterngespräch. "Bei Bedarf sind mehr Termine möglich”, so Angelika Junge. 

Für die elf Jugendlichen sind fünf Gruppentermine mit dem Psychologen verbindlich vorgesehen. Darin spricht er Themen wie Frustessen und Essen aus Langeweile an. Jan Jansen ist außerdem wichtig, das Selbstbewusstsein der übergewichtigen jungen Leute zu stärken.

Zur Sache

Bremer Kinder werden immer dicker

Kinder und Jugendliche werden immer dicker – auch in Bremen. Hatte 2019 noch etwas mehr als jedes zehnte in der Stadt eingeschulte Kind (elf Prozent) Übergewicht, war nach Auskunft von Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard (Linke) im Sommer 2021 schon jedes sechste Kind, das zur Schule gekommen ist, zu dick. Besonders drastisch fiel dieser Anteil mit 23 Prozent in strukturell benachteiligten Stadtteilen aus. Aber auch in wohlhabenderen Stadtteilen stieg die Quote übergewichtiger und adipöser Kinder laut Bernhard von etwa fünf auf acht Prozent.

Info

Im Diako gibt es für Adipositas-Betroffene weitere Kurse der Gesundheitsimpulse, eine Adipositas-Selbsthilfegruppe und die Adipositas-Chirurgie mit Adipositas-Sprechstunde. Das Adipositaszentrum des Klinikverbundes Gesundheit Nord ist am Klinikum Bremen-Mitte angesiedelt und bietet außer der Selbsthilfegruppe "Morbide Adipositas" ebenfalls weitere Hilfsangebote. Für das Projekt "Starke Kinder – Starker Westen" muss eine ärztliche Bescheinigung der Größe und des  Gewichts des Kindes vorgelegt werden, um gegenüber den Krankenkassen die medizinische Notwendigkeit zu begründen. Sie übernehmen bis zu 80 Prozent der Teilnahmegebühr in Höhe von 900 Euro.

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