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Erinnerungen und Vorstellungen von Menschen beeinflussen ihre Wahrnehmung Jeder lebt in seiner eigenen Wirklichkeit

Wer durch eine Stadt geht, sieht Häuser, Straßen, Autos, Bäume und Menschen. Man kann es auch so ausdrücken: Er bekommt ein Bild von einem Ausschnitt der Wirklichkeit. Was aber ist Wirklichkeit? Sehen Menschen die Welt tatsächlich so, wie sie ist? Diese Fragen haben schon die Philosophen des Altertums beschäftigt. Heute gehen ihnen auch Hirnforscher und Psychologen nach. Ihre Arbeiten zeigen, dass die Wahrnehmung der Welt ein schwierigeres Thema ist, als es manchem auf den ersten Blick erscheinen mag.
23.05.2014, 00:00 Uhr
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Jeder lebt in seiner eigenen Wirklichkeit
Von Jürgen Wendler

Wer durch eine Stadt geht, sieht Häuser, Straßen, Autos, Bäume und Menschen. Man kann es auch so ausdrücken: Er bekommt ein Bild von einem Ausschnitt der Wirklichkeit. Was aber ist Wirklichkeit? Sehen Menschen die Welt tatsächlich so, wie sie ist? Diese Fragen haben schon die Philosophen des Altertums beschäftigt. Heute gehen ihnen auch Hirnforscher und Psychologen nach. Ihre Arbeiten zeigen, dass die Wahrnehmung der Welt ein schwierigeres Thema ist, als es manchem auf den ersten Blick erscheinen mag.

Eine Ahnung davon, dass zur Wirklichkeit mehr gehört als das, was Menschen wahrnehmen, bekommt zum Beispiel, wer sich näher mit Fledermäusen beschäftigt. Menschen können in der Regel nur Schallfrequenzen zwischen etwa 16 und 18 000 Schwingungen pro Sekunde hören. Fledermäuse hingegen nehmen auch Töne mit einer höheren Frequenz wahr, sogenannten Ultraschall. Schwarze Kiefernprachtkäfer wiederum können selbst über größere Entfernungen Waldbrände erkennen. Diese Fähigkeit verdanken sie dem Umstand, dass sie Infrarotsensoren besitzen, das heißt Körperteile mit Sinneszellen, die auf Wärmestrahlung in einem ganz bestimmten Wellenlängenbereich reagieren.

Das bedeutet: Was als wirklich erlebt wird, hängt von den Sinnesorganen ab. Die unterschiedlichen Sinnesorgane unterschiedlicher Lebewesen beziehungsweise die unterschiedlichen Wahrnehmungen sind eine Folge davon, dass verschiedene Arten verschiedenen Anforderungen gerecht werden müssen, um zu überleben. Die Vielfalt ist folglich ein Ergebnis der Evolution, der Entwicklungsgeschichte des Lebens auf der Erde.

Bei der Wahrnehmung spielt aber nicht nur das eine Rolle, was die Sinnesorgane erfassen. Dies zeigt sich zum Beispiel beim Phänomen der sogenannten Farbkonstanz. Eine Zitrone erscheint Menschen immer gelb, ganz gleich, ob sie morgens, mittags oder abends im Freien oder aber in einem Raum unter einer Lampe betrachtet wird. Dies ist keineswegs selbstverständlich, denn im Laufe des helllichten Tages verändert sich das Licht, weil sich der Stand der Sonne verändert und unterschiedliche Anteile des Lichts in der Atmosphäre unterschiedlich gestreut werden. Das Licht einer Lampe ist ohnehin ein anderes als das im Freien. Damit müssten sich aber auch die Farben der Gegenstände verändern, die das Licht reflektieren. Dass das Farbempfinden dennoch gleich bleibt, liegt am Gehirn, denn dort werden die Informationen der Sinnesorgane verarbeitet. Das im Gehirn gespeicherte Wissen darüber, wie eine Zitrone auszusehen hat, hat offensichtlich einen Einfluss auf die Wahrnehmung. Wie wichtig die Rolle des Wissens ist, veranschaulicht auch dieses Beispiel: Wenn Menschen ein Bild eines schwarz-weißen Fleckenmusters gezeigt wird, können diese darin normalerweise keine Struktur erkennen. Wird ihnen jedoch gesagt, dass auf dem Bild eine Kuh dargestellt sei, erkennen sie diese. Fortan werden sie immer eine Kuh sehen und kein bedeutungsloses Fleckenmuster mehr.

Wie die Schweizer Neurowissenschaftlerin Petra Vetter und der Philosophieprofessor Albert Newen von der Universität Bochum jetzt in der Zeitschrift „Consciousness and Cognition“ erklären, werden Wahrnehmungen auch von Vorstellungen, Erinnerungsbildern, Begriffen und Hintergrundwissen geprägt. Experimente hätten gezeigt, dass die Bereiche, in denen Informationen des Sehsinns in die Großhirnrinde gelangten, die sogenannten primären visuellen Areale, vom vorhandenen Wissen beeinflusst beziehungsweise moduliert würden.

Was Menschen als Wirklichkeit erleben, hängt deshalb immer auch von ihrer Lebensgeschichte ab, das heißt von dem, was sie im Laufe der Jahre gelernt haben. Wie Thorsten Fehr vom Institut für Hirnforschung der Universität Bremen erläutert, drückt sich dies auch in der sogenannten selektiven Aufmerksamkeit aus, in der Tatsache, dass bestimmten Umweltreizen beziehungsweise Ausschnitten der Wirklichkeit besonders viel Beachtung geschenkt wird. Der Bremer Wissenschaftler gibt dafür dieses Beispiel: Wenn ein Autofahrer tagsüber durch ein Wohngebiet fährt, rechnet er damit, dass kleine Kinder auf die Straße laufen könnten. Ist er hingegen mitten in der Nacht in demselben Gebiet unterwegs, erwartet er dies nicht. Seine Aufmerksamkeit ist eine andere – und damit auch das, was er von seiner Umwelt wahrnimmt.

Fehr geht davon aus, dass Menschen aufgrund ihrer Lerngeschichte eine Art Filter entwickeln. Dabei gebe es allerdings große individuelle Unterschiede. Das heißt: Bei manchen komme das Bild, das sie sich von der Wirklichkeit machten, den tatsächlichen Gegebenheiten näher als bei anderen. Zu den Erkenntnissen, die Forscher in den vergangenen Jahren gewonnen haben, gehört nach seinen Worten auch, dass mit zunehmendem Alter die selektive Aufmerksamkeit an Bedeutung verliert. Ältere Menschen hätten einen guten Blick für die sichtbare Wirklichkeit.

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