Unter Flugangst leiden rund 15 Prozent der Menschen. Bei einem Seminar am Bremer Flughafen stellen sich neun Teilnehmer ihrer Angst vorm Fliegen - nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Am zweiten Tag des Seminars wollen sie in Richtung München abheben. Der Kampf gegen die Angst hat seinen Preis: 790 Euro kostet das Wochenendseminar.
Unser Körper stammt aus der Steinzeit. Und genau das ist das Problem mit den modernen Flugzeugen. Denn damals, als der menschliche Körper als ultimative Waffe gegen Angstattacken und Lebensgefahr das Adrenalin verpasst bekam, um schnell wegzulaufen oder kräftig auszuteilen, lag die Konstruktion von Flugzeugen noch in ferner, ferner Zukunft. Doch nun ist der moderne Homo sapiens, der im 21. Jahrhundert im Flugzeug sitzt und Flugangst hat, dazu verdammt, still zu sitzen. Nicht wegzulaufen und nicht um sich zu schlagen.
Seminarleiterin Laura Del Fabro-Güntsch kennt das Problem und bearbeitet es seit zwanzig Jahren. Mit Atem-, Dehn- und Streckübungen und viel Psychologie. Über die Seminare, die sie im Auftrag einer Agentur veranstaltet, sagt sie: „Man muss die Angst kanalisieren. Es ist eine absolut unnatürliche Situation, dass man sich bei Angst nicht bewegen kann, sondern eingekeilt still sitzen muss.“ Die „Dottoressa“ aus Italien mit Wohnsitz in Bayern unterrichtet in Bremen im achten Stock eines Hotels am Flughafen. Der Blick durch die großen Fenster geht in Richtung der Flugzeugabfertigung, mehrere bunte Heckflossen sind in Sichtweite. Die neun Seminarteilnehmer im Raum „Dornier“, vier Männer und fünf Frauen, sitzen im Kreis auf ihren Stühlen. In der Mitte zwischen ihnen liegen Postkarten auf dem Boden – Urlaubsgrüße von erfolgreich geheilten Flugphobikern.
Den Reisehorizont erweitern
Die Teilnehmer des heutigen Seminars haben exotische Destinationen von der Liste ihrer Urlaubswünsche gestrichen – manche erst seit kurzer Zeit, andere seit Jahren oder Jahrzehnten. Jörg Behrens, Schulleiter aus Oldenburg, will nach zwanzig Jahren endlich wieder ohne Beruhigungstablette in einen Flieger steigen. Und er will seinen Reisehorizont erweitern. Eine Ingenieurin, die namentlich nicht genannt werden will, kommt ebenfalls aus Oldenburg und muss von Berufs wegen fliegen: „Es fällt mir schwer, die Kontrolle abzugeben“, sagt die 31-Jährige.
Die technischen Informationen sind ihr besonders wichtig. Am Vormittag war der psychologische Teil dran, am Nachmittag folgt der technische. Pilot Rolf Stünkel fliegt Passagiermaschinen für eine große Airline und erzählt aus seinem Berufsalltag. Der 59-Jährige aus Kirchweyhe erscheint in voller Kapitänsmontur mit Mütze, Uniform mit vier goldenen Streifen am Ärmel und glänzenden Schuhen. Stünkel ist gut aufgelegt. Seit 16 Jahren ist er Referent bei den Seminaren.
Ein paar launige Sprüche am Anfang – Stünkel: „Instrumentenflug hat nichts mit Musik zu tun“ – dann geht es um Technik und Sicherheit. Der Pilot erklärt, wie die Form der Flügel für Auftrieb sorgt. Dass die Neigung, wenn der Flieger in die Kurve geht, nicht mehr als 30 Grad betragen darf. „Das ist gefühlt aber mehr“, meint der 42-jährige Oliver Hauck, ein IT-Spezialist aus Hannover.
Weit bedrohlicher finden die Teilnehmer allerdings unvorhersehbare Turbulenzen und „Luftlöcher“. Stünkel ist in seinem Element: „Kein einziges Flugzeug ist jemals durch Turbulenzen abgestürzt.“ Turbulenzen sind aus seiner Sicht ein „Komfortproblem“, aber kein technisches oder gar lebensbedrohliches. Die Flügel der Maschinen seien derart biegsam, dass sie durch Wind und Wetter nicht brechen oder abfallen könnten. Stünkel: „Ich habe Werkstoffprüfungen gesehen, bei denen die Flügel so stark gebogen wurden, dass sich die beiden Flügelspitzen fast berührt haben.“ Gebrochen seien sie zwar irgendwann, aber die Flexibilität sei sehr hoch.
Die Zuhörer sind sichtlich beeindruckt. Sie wollen ihre Flugangst, eine Art Mischung aus Klaustrophobie und Höhenangst, unbedingt loswerden. Deutschlandurlaub ade. „Ich bin immer geflogen“, erzählt die 18-jährige Jasmin Saracan aus Bremen. Aber Ende vergangenen Jahres flog sie mit ihrem Vater in einer kleineren Maschine, seitdem hat sie Angst. Der 33-jährige Torsten Bruns ist sogar schon vor einem Start wieder ausgestiegen: „Aus Platzangst“, erklärt er. Aber der Industriekaufmann aus Bremen-Nord muss von Berufs wegen ins Flugzeug steigen.
„Ich werde panisch“
Julia Holle leidet seit einem Jahr unter Flugangst. „Ich werde panisch“, sagt die 32-jährige Ärztin. Die Angst vorm Absturz bringt ihre Gedanken zum Rotieren. Jetzt möchte sie wissen, was im Fall einer Flugzeugentführung geschieht. Rolf Stünkel wird vergleichsweise einsilbig, Details werden nicht preisgegeben: „So etwas wie 9/11 kann sich heute nicht mehr wiederholen“, betont er. Die Piloten werden geschult, und die Cockpittüren sind aus schusssicherem Material. „Die Cockpittür ist die letzte Verteidigungslinie“, sagt der Pilot. Vor allem für den Fall, dass ein Flugzeug wieder als „fliegende Bombe“ missbraucht werden soll, wie beim Anschlag 2001 in New York. „Hundertprozentige Sicherheit gibt es auch für Flugpassagiere nicht“, sagt Laura Del Fabro. „Damit muss man leben.“
Am Ende des ersten Seminartages steigen die neun Teilnehmer in eine Boeing 737, die in Bremen zwischengelandet ist, und machen Atemübungen. „Kein Problem“, findet Torsten Bruns, schließlich sei klar, dass er nicht mit der Maschine abheben muss.
Am nächsten Tag, beim Flug von Bremen nach München und zurück, sind die Teilnehmer unter sich. Eine Teilnehmerin konnte sich nicht überwinden und ist in Bremen geblieben. Torsten Bruns ist nach dem Flug sehr zufrieden, Julia Holle auch. Und Jasmin Saracan will nur wenige Tage später mit ihrem Vater in Richtung Istanbul abheben.
Endlich Urlaub in der Ferne
Im achten Stock eines Hotels am Flughafen lernen Seminarteilnehmer, ihre Flugangst zu besiegen.
Reportage