. Für die einen ist der Palio von Siena ein Event mit beinahe magischer Anziehungskraft, für die anderen handelt es sich bei dem traditionellen Pferderennen auf der steil abfallenden Piazza del Campo um ein Spektakel mit allerlei Abgründen. Die Rivalität unter den Bewohnern der Stadtviertel, der sogenannten Contrade, ist so groß, dass Pferdedoping und Schlägereien früher an der Tagesordnung waren.
In diesem Jahr wurden erstmals in der Geschichte des Palio die Proteste von Tierschützern zugelassen. Die Rede ist von einem Tabu-Bruch, Lokal-Politiker aller Parteien hatten sich gegen die Demonstration ausgesprochen. Aber der Polizeipräfekt der toskanischen Stadt erlaubte sie, in sicherer Entfernung auf einem sechs Kilometer vom Stadtzentrum entfernten Gelände. 200 Aktivisten demonstrierten bereits am Tag vor dem Mariä-Himmelfahrt-Rennen, das wegen schlechten Wetters auf Montagabend verschoben worden war. „Der Palio ist nicht mehr unangreifbar“, sagte Stefano Fuccini, Präsident der Europäischen Tierschutzpartei (PAE).
Aufgebrachte Bewohner und Palio-Anhänger versuchten die Demonstranten einzuschüchtern. Manche befürchten offenbar den Anfang vom Ende eines uralten Brauchs. „Viele Menschen haben nun Angst, weil es sich um einen Präzedenzfall handelt“, sagte Fuccini. Nimmt es mit den im Sommer in ganz Italien verbreiteten historischen Pferderennen von Asti bis Ferrara, von Legnano bis Bomarzo dasselbe Ende wie bei der Fuchsjagd in Großbritannien oder dem Stierkampf in Spanien? Gegen beide Traditionen wurde lange protestiert, heute sind sie weitgehend verboten. Für die Renaissance-Stadt Siena wäre das Ende des Palio nach den Finanzskandalen um die Bank Monte dei Paschi di Siena ein weiterer herber Schlag.
Die Wurzeln des Palio liegen im 12. Jahrhundert, das Rennen findet seither zur Verehrung der Madonna statt. Proteste wurden bisher nie zugelassen mit der Begründung, die Gemüter in Siena kochten am 2. Juli und 16. August, an den Tagen, an denen das Rennen normalerweise stattfindet, besonders hoch. Die rivalisierenden Bewohner der Stadtviertel, Touristen und insgesamt 30 000 Zuschauer auf der Piazza del Campo jubeln den Jockeys und den Pferden zu. Am Montagabend siegte die Contrada „Wald“ mit Jockey Giovanni Atzeni auf Polanski. Unmittelbar nach dem Rennen lieferten sich die Anhänger der verfeindeten Viertel „Turm“ und „Welle“ eine Massenschlägerei.
Wie sich die zweibeinigen Rivalen gegenseitig zurichten, lässt die Tierschützer kalt. Sie sorgen sich um das Wohl der Pferde von denen in den vergangenen 15 Jahren sieben beim Palio ums Leben kamen. Seit 1970 sollen sogar knapp 50 Tiere getötet worden sein. Das letzte Opfer namens Periclea kam nach einem Probelauf im Juni um. Es war gestürzt und wurde wegen einer Verletzung eingeschläfert. Bein- und Fußbrüche, Stürze, Zusammenstöße sind beim Palio an der Tagesordnung. Der rutschige Tonfliesenboden auf der Piazza wird nur mit Sand ausgestreut, besonders in der berüchtigten Curva San Martino kommt es oft zu Unfällen.
Zwar wurden die Sicherheitsstandards im Lauf der Jahre verbessert. So sind für Jockeys inzwischen Alkoholtests vor dem Rennen vorgeschrieben, statt Vollblütern dürfen nur noch Halbblüter bei dem weniger als zwei Minuten dauernden Rennen mitlaufen. Dennoch kommt es zu Gesetzesverstößen. So ermittelt die Staatsanwaltschaft Siena derzeit nicht nur wegen des Todes von Stute Periclea, sondern auch gegen einen gewalttätigen Jockey sowie wegen Betrugs und Tierquälerei, weil drei Pferden die Mikrochips ausgetauscht worden seien. Die Tiere sind Vollblüter, wurden aber als Halbblüter deklariert.
Die Tierschützer feiern ihre Demonstration als historischen Sieg. Stefano Fuccelli sagt, dass er zwar nicht wisse, ob er das Ende des Palio noch erleben werde. Aber der Anfang vom Ende sei gemacht.