Im Land der Magyaren gibt es eine wunderbare Unendlichkeit – das ist eine poetische Umschreibung des versteppten und mit nur wenig Gras bewachsenen Gebietes der ungarischen Puszta. In diesem „Nichts“, so lautet die eigentliche Bedeutung des Wortes, zeigt sich die Natur aber derart vielfältig, dass sie als ökologische Sehenswürdigkeit ebenso attraktiv ist wie der Badebetrieb am Balaton, zu Deutsch Plattensee, oder die Kur- und Wellnessangebote in der Hauptstadt Budapest und anderen Orten Ungarns.
Im Nordosten, nahe der zweitgrößten Stadt Debrecen, liegt der Nationalpark Hortobagy, ein riesiger Biotop. Er ist Puszta und Sumpfgebiet zugleich, Heimat von mehr als 300 Vogelarten – darunter Kormorane, Seeadler, Löffler und Großtrappen – sowie einer reichen Pflanzenwelt. Der Nationalpark ist zudem Europas einziges Areal für Wildpferde, die sich in den endlosen Weiten frei bewegen wie einst ihre asiatischen Vorfahren aus der Mongolei. Von diesen ungezähmten Przewalski-Pferden existiert in Hortobagy eine kleine Herde, die man aber nur mit Glück und zudem einer Sondergenehmigung zu Gesicht bekommt.
Knapp ein Viertel des 82.000 Hektar umfassenden Geländes – flächenmäßig mehr als doppelt so groß wie der österreich-ungarische Nationalpark Neusiedler See – dient landestypischen Nutztieren wie Graurindern, Zackelschafen, Mangalitza-Wollschweinen und Wasserbüffeln als Weideland und sichert so den Fortbestand der Puszta. Parkbesucher werden auf Lehrpfaden von geschulten Gästeführern über Fauna und Flora informiert. Seit Hortobagy zum Weltkulturerbe der Unesco gehört, hat der Ökotourismus dort deutlich zugenommen, auch wenn das Schützen der Natur an erster Stelle stehe, wie die Parkdirektion betont.
Im Nationalpark gibt es außer einer beeindruckenden Hotelanlage mit Schwimmhalle mehrere volkskundliche Museen und Ausstellungsräume für handwerkliche Kleinkunst. Im benachbarten Gestüt von Mata demonstrieren Pferdehirten peitschenknallend ihre Reitkunst auf Nonius-Rössern, einer traditionellen ungarischen Züchtung. Während der Sommermonate geht es mit Pferdekutschen hinaus in die grenzenlos einsame Puszta, wo nur die Glocken der umherziehenden Viehherden zu hören sind.
Von Debrecen, dem Zentrum der nördlichen Tiefebene mit 200.000 Einwohnern, sind es ungefähr 100 Kilometer bis zur ukrainischen Grenze. Auf der Fahrt dorthin passiert man schmucke Ortschaften mit schwer aussprechbaren Namen wie Nyiregyhaza und Vasarosnameny und erreicht schließlich an den Ausläufern der Karpaten eine äußerst fruchtbare Region, die selbst vielen Magyaren nur vom Hörensagen bekannt ist: der Bezirk Szabolcs-Szatmar-Bereg. Dort reiht sich eine Vielzahl von Plantagen mit Pflaumen-, Apfel- und Sauerkirschbäumen um den Fluss Theiß, der auf einer Länge von 1000 Kilometern ebenfalls durch Rumänien und Serbien fließt und schon häufig schwere Überschwemmungen verursacht hat. Dennoch gelingt es den Bewohnern immer wieder, ihre Dörfer wiederaufzubauen und im Fremdenverkehr eine zusätzliche Einnahmenquelle zu finden. Einladend wirken die mit Geranien, Petunien, Hibiskus, Tagetes, Phlox und Zinnien bepflanzten Gärten der Wohnhäuser, in denen Gästezimmer oftmals günstig vermietet werden.
Und was hat die regionale Küche zu bieten? Zumeist deftige Gerichte, wie auf offenem Feuer gegartes Kesselgulasch oder Krautwickel mit Fleisch und Mais, den Hirteneintopf Slambuc, Fischsuppen, die hauptsächlich auf Basis von Karpfen gekocht werden, und zum Nachtisch in Honig eingelegte Walnüsse.
Viele der überaus gastfreundlichen Einheimischen arbeiten als Holzschnitzer, Sticker, Weber, Töpfer oder Strohflechter. Gerade das Bewahren alter Traditionen macht diesen östlichen Landesteil zu einer kulturellen Schatzkammer Ungarns. Besonders stolz sind die Einheimischen auf ihre teils mittelalterlichen Kirchengebäude und deren häufig frei stehenden und mit Schindeln gedeckten Glockentürmen, die von den Gläubigen als Leuchtfeuer der Urzeit verehrt werden.
Im Inneren überraschen alte Fresken und kunstvoll bemalte Kassettendecken im Siebenbürger Blumenstil – so in den Dörfern Csaroda und Takos. Rätselhaft sind Hunderte bootsförmige, aus Eichenholz geschnitzte Grabhölzer auf dem Friedhof von Szatmarcseke. Ihr Ursprung ist bis heute ungeklärt. „Wir vertrauen in die Hoffnung auf eine fröhliche Auferstehung“, verkündet optimistisch manche Grabinschrift. Dieser calvinistische Friedhof gilt auch aufgrund der Grabhölzer als einzigartig in Europa.
Auf dem blonden Fluss Theiß, der wegen seiner hellen Sedimentablagerungen so genannt wird, können Kanuten im Sommer ungestört paddeln, wenn sie mit ihren Booten im Schatten mächtiger Eichenhaine vorbei an Sümpfen und toten Flussarmen durch eine natürliche Umgebung gleiten.
Die Touren von Dorf zu Dorf mit dem Auto oder per Rad empfehlen sich als Tagestrip auch den Gästen aus nahe gelegenen Kurbädern wie dem Mekka für Rheumakranke namens Hajduszoboszlo. Eine dieser Routen trägt den hübschen Namen Zwetschgenstraße. Sie verbindet mehrere Orte, und bei jedem Halt wird ein Gläschen Obstschnaps offeriert, der in Holzfässern aus dem Maulbeerbaum heranreift. Wenn sich die Magyaren zuprosten, sagen sie: „Egeszsegere“. Für westliche Zungen scheint das kompliziert zu sein, aber egal, wie man das findet: Die selbst gemachten Hochprozentigen schmecken in jedem Fall – und helfen so manchem, die ungarischen Wörter leichter auszusprechen.