Es gibt viele Gründe für einen Besuch im Old Post Office an der Pennsylvania Avenue 1100 in Washington DC. Zwar eignete sich der neoromanische Prachtbau von 1892 ohne direkten Eisenbahnanschluss letztlich schlecht zur Postverteilung, denn bereits nach 14 Jahren zog der US Postal Service näher an die Gleise. Dennoch hat das Gebäude allen Abrissbemühungen der vergangenen Jahrzehnte getrotzt und ist inzwischen zu einer Ikone der Metropole avanciert. Sein begehbarer Glockenturm ist das dritthöchste Bauwerk der Stadt und das riesige mit einem Glasdach überspannte Atrium, in dem einst die Sortieranlage rumorte, ist heute ein gediegener Treffpunkt für Geschäftsleute und Diplomaten, die sich dort zum High Tea treffen. Selbst die Finanzprobleme von Ex-Präsident Donald Trump, der den Komplex ab 2013 zum Luxushotel umbauen ließ, hat das Old Post Office hinter sich gelassen und firmiert seit dem vergangenen Jahr unter der Luxusmarke Waldorf Astoria.
Ein Kirschbaum aus Plastik als Selfie-Magnet
Doch seit diesem Jahr kommen Besucher auch für den lebensecht gestalteten Kirschbaum aus Plastik, den Hotelmanager Jamaal Simington im Atrium aufstellen ließ. Mehr als sechs Meter ist der Baum hoch, und alle paar Minuten lässt sich jemand für ein Selfie darunter nieder. Ganz Washington ist nämlich während dieser Tage im Kirschblütenfieber. Das National Cherry Blossom Festival hat 2024 in drei Wochen schätzungsweise 1,5 Millionen Besucher in die Stadt gelockt, erläutert Nicole Nussbaum von der städtischen Medienbetreuung. „Für uns ist das Festival inzwischen der touristische Höhepunkt im Jahr“, sagt sie. Gefeiert wird mit Open-Air-Konzerten oder einer Party mit rosa Krawatten. „Wir zelebrieren den Frühling“, sagt Nussbaum. Tatsächlich sind viele Besucher selbst an bedeckten Tagen mit lediglich 15 Grad Celsius in Shorts und Sandalen rund um den künstlichen Stausee Tidal Basin zwischen dem Obelisken und dem Jeffersen-Memorial unterwegs. Bereits vor Sonnenaufgang kommen sie, um unter den Kirschbäumen zu posieren. 3800 Exemplare sollen mittlerweile in Washington stehen, schätzt Nussbaum.

Digitale Blütenträume werden im Artechouse wahr: Hier fliegen Besuchern die Blüten digital regelrecht um die Ohren
Der Stadt bescheren sie einen Boom der Blüten. Neben dem Waldorf Astoria haben auch andere Hotels, Gastronomen und Geschäftsleute das Thema aufgegriffen. Die Konditorei Olivia Macaron im trendigen Altstadtviertel Georgetown hat Macarons im Kirschblütendesign ins Sortiment genommen. Im Old Stone House, nur zwei Blocks weiter, verkauft der Nationalparkservice Kirschblütenseife sowie Puzzles und Porzellan mit dem Blütendessin. Es gibt täglich verschiedene Cherry-Blossom-Cruises und geführte Radtouren durch den East Potomac Park sowie über die National Mall, die grüne Prachtstraße zwischen dem Kapitol und dem Weißen Haus. Selbst außerhalb der Stadt wird im Gaylord Resort am Ufer des Potomac River ein Kirschblüten-Cocktail auf der Basis von Kirschlikör mit Gin, Ouzo, Limettensaft und Sodawasser serviert. Kirschblütenpralinen sowie ein Spa-Erlebnis gebe es auch, versichert PR-Frau Lex Juarez. Sogar dem Osterhasen haben die Kirschblüten rund um Washington inzwischen den Rang abgelaufen. Wenn man noch Exemplare sieht, dann meist ebenfalls in zartrosa.
Auch George Washington liebte die Kirsche
Schon der General der Befreiungsarmee und erste US-Präsident George Washington war als Privatmann und begeisterter Farmer ein Freund der Kirsche. Neben Apfel- und Birnbäumen ließ er Kirschen auf seinem Anwesen Mount Vernon am Potomac, nur ein paar Kilometer außerhalb von National Harbor, anpflanzen. Zu einem Hype um die Kirsche kam es in der Region dennoch erst 125 Jahre später, als der Bürgermeister der Stadt Tokio seinem Amtskollegen aus Washington 3000 Setzlinge aus Japan schenkte. Nachdem eine Krankheit sie vernichtete, wurden 1912 weitere 3200 Bäumchen aus dem Fernen Osten geschickt. Einige Hundert von ihnen stehen noch heute: Die dunkelrot blühende Okame-Kirsche leitet traditionell den Blütenreigen ein. Die Kwanzan-Kirsche hat 25 Blätter an jeder Blüte und eine leuchtend rosa Färbung. Vor allem aber die zartrosa blühende Yoshino-Kirsche mit ihren fünf Blütenblättern dominiert das Bild in der Stadt. Die Einheimischen kennen die Unterschiede fast so selbstverständlich wie die Namen der US-Präsidenten. Im futuristischen Artechhouse, in einem Keller tief unter der Maryland Avenue, begeben sich Digitalkünstler im siebten Jahr in Folge in einer eigens programmierten Sonderausstellung auf die Suche nach der Herkunft der Blüte. In der zentralen Installation fliegen Besuchern die Kirschblütenblätter 20 Minuten lang digital förmlich um die Ohren. Am besten genießt man das Erlebnis mit einem Cocktail mit japanischen Zutaten. Dann kann man für die leichten Schwankungen im Gleichgewichtssinn hinterher immerhin den Alkohol verantwortlich machen.

Lizzy serviert bei Olivas Macarons in Georgetown im Frühjahr Macarons in Kirschblütenrosa.
In Erinnerung an die japanische Herkunft der Bäume lassen Tausende Besucher an einem Sonnabend während der Blüte beim Kite-Festival ihre Lenkdrachen rund um das Washington Monument steigen. Großfamilien oder Collegecliquen sind mit Picknickausrüstung angerückt. Die Stimmung ist frühlingshaft ausgelassen und gänzlich unkonventionell. Wer keinen eigenen Drachen hat, der bastelt sich an einem der Stände einfach einen. Auf der Bühne wird getrommelt und Asiatinnen im Kimono ziehen mit Sonnenschirmen durch die Menge.

Old Stumpy erlebt in diesem Jahr seinen letzten Frühling.
Etwas abseits von all dem Trubel steht hinter dem Jefferson Memorial ein einzelnes knorriges Bäumchen dicht am Ufer des Tidal Basins. Anders als seine großen Brüder ist Old Stumpy – der alte Stumpf – keine Schönheit. Dennoch ist der tapfere kleine Baum in diesem Jahr der eigentliche Star der Saison. Die Pflanze berührt in den sozialen Medien die Herzen von Millionen Menschen in aller Welt. Sie ist ein greifbares Opfer der Klimakrise. Die führt nicht nur dazu, dass die Blüte immer früher beginnt und immer weniger vorhersagbar ist. Startete sie 2013 noch am 9. April, so sei in diesem Jahr der Höhepunkt bereits am 17. März erreicht gewesen, sagt Leslie Frattaroli vom Nationalparkservice. Auch der Meeresspiegel ist seit Anfang der 1990er-Jahre an der US-Ostküste um 30 Zentimeter gestiegen und der Boden zugleich abgesunken. Inzwischen spült die Flut zweimal am Tag Brackwasser über die Ufer des runden Tidal Basins auf den Fußweg und an die Wurzeln nicht nur von Old Stumpy. Insgesamt 300 Bäume in Ufernähe will der Nationalparkservice deshalb fällen und zu Mulch verarbeiten lassen. 133 Millionen US-Dollar soll die Ufersanierung kosten inklusive 277 neuer Kirschbäume.
Als der Plan im Frühjahr 2020 erstmals bekannt wurde, entbrannte in den sozialen Medien eine wahre Protestwelle. Old Stumpy wurde zum Star während der Pandemie. So groß war der Aufschrei, dass der Nationalparkservice die Aktion zunächst abblasen musste. In dieser Saison soll Stumpy nun aber endgültig sein letztes Frühjahr erleben. Treue Fans haben ihm Blumen gebracht und einige radikale Fans drohten damit, sich an sein Stämmchen zu ketten. Schutzgitter mussten aufgestellt werden. Doch verpflanzen lässt er sich wohl nicht. Nun hat das National Arboretum angekündigt, Teile von Stumpy anderen gesunden Kirschbäumen aufzupfropfen. So kann der kleine knorrige Held der Kirschblüte in seinen gengleichen Klonen weiterleben, und die traurige Geschichte endet pragmatisch als Frühlingsmärchen.