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Besuch in einer Gemeinschaftspraxis Am Puls der Zeit: Ein Landarzt am Limit

Ottersberg in einer Hausarztpraxis. Es ist Montag, neun Uhr. „Katastrophentag“, sagt Torsten Kuper. Vor dem Empfang sammeln sich Patienten. Der Landarzt weiß schon jetzt: Vor 20 Uhr kommt er nicht nach Hause.
16.12.2018, 17:00 Uhr
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Am Puls der Zeit: Ein Landarzt am Limit
Von Imke Wrage

Ottersberg, Landkreis Verden, 12.818 Einwohner. Eine Hausarztpraxis mit hellen Wänden und hohen Decken, modernster Technik, Wartezimmer mit Blick ins Grüne. Über den umliegenden Wiesen wabert Nebel und legt sich wie eine dünne Schutzschicht über den verschlafenen Ort. Es ist Montag, neun Uhr. „Katastrophentag“, sagt Torsten Kuper mit einem schiefen Lächeln. Vor dem Empfangstresen der Praxis sammeln sich Rotznasen, Rentner und Rollatoren. Zusammengesunken nippt Kuper am ersten Kaffee und weiß schon jetzt: Vor 20 Uhr kommt er heute nicht nach Hause.

Torsten Kuper – lockerer Typ, groß gewachsen, Poloshirt – hat einen Job, um den ihn die Freunde und Kollegen aus den umliegenden Kliniken nicht beneiden: Er ist Landarzt. Zusammen mit Anke Hornemann und Dennis Tietjen führt er seit 2013 eine Gemeinschaftspraxis für Allgemeinmedizin. Davon gibt es in Norddeutschland nicht mehr viele. Ärzte sind in Rente gegangen, Nachfolger gibt es kaum. Der Job ist für junge Ärzte nicht mehr attraktiv – zu hoch ist die Belastung, zu gering der Verdienst. Die verbliebenen Praxen quellen über, in den meisten herrscht Aufnahmestopp. Um die nächste Praxis zu erreichen, müssen die Kranken weit fahren.

Patient rein, Patient raus

Ein Patient nach dem anderen betritt das Sprechzimmer. Händeschütteln, ein lockerer Schnack: „Und, kommt die Familie aus Berlin zu Besuch?“ Behandlung, Patient raus, Patient rein. Zwei Stunden versorgt Kuper Wunden, verschreibt Medikamente, legt das Stethoskop an die Brust. „Gutes Timing heute“, sagt der Arzt. Dann kommt doch wieder alles anders. 45 Minuten braucht Kuper, um einem Patienten geduldig zu entlocken, was sein wirkliches Leiden ist: ein psychisches, über das er nicht gerne spricht.

Auch diese Termine gehören dazu, sagt Kuper, fest planen kann man in der Praxis nie. Als „Allrounder“ deckt er das gesamte medizinische Spektrum ab. Er will nicht nur die Krankheit behandeln, sagt der 49-Jährige. „Ich will den ganzen Menschen betrachten.“ Rund 6000 Patienten sind in der Kartei gelistet, Kuper kennt fast jeden mit Namen, kennt die Geschichten und Familien. Nichts anderes will er, sagt er: nah dran sein am Menschen. Doch Nähe hat ihren Preis: Sie kostet Zeit, viel Zeit.

Torsten Kuper öffnet das Fenster, lässt den Blick für eine Minute schweifen. Windräder drehen sich gemächlich, herbe Landluft zieht herein. Einatmen, ausatmen. Im Rücken lauert die Arbeit. Dort ploppen bunte Fenster mit Namen bedrohlich auf dem Bildschirm auf. 16 Patienten sitzen noch im Wartezimmer. Manche von ihnen werden am Nachmittag wiederkommen müssen. Das Verständnis dafür ist gering. Den Dampf lassen sie, wie so oft, bei den Sprechstundenhilfen ab. An deren Stehpult türmen sich schon die Akten und Anträge, die es später zu bearbeiten gilt. Aufschrift: „Am Puls der Zeit“.

13.30 Uhr. Die Sprechstunde ist lange vorbei, als ein Mann an die Tür der Praxis klopft. Er muss noch dringend ein Rezept abholen, ist dafür weit gefahren, wie er röchelnd hervorbringt. Dennis Tietjen macht auf. „Schleichen Sie sich rein, Herr Mahler, aber verpetzen Sie mich nicht“, sagt er, klopft dem Mann aufmunternd auf die Schulter und erntet einen erleichterten Blick.

Zeit für eine Pause bleibt nicht

Drinnen sitzen Hornemann, Kuper und die Kollegen inmitten von Papierstapeln. Zeit für eine Pause bleibt heute nicht, mit der medizinischen Versorgung der Patienten ist die Arbeit noch lange nicht getan. Sie lieben ihren Job, werden die Ärzte an diesem Tag noch mehrfach sagen, aber der ganze Papierkrieg – Anträge, Anfragen von Versorgungsämtern und Krankenkassen, Abrechnungen – und die Angst vor Regressen bringe sie manchmal schier zur Verzweiflung. Denn es fresse Zeit. Zeit, die sie eigentlich für die Patienten brauchen. Viele Anträge bleiben heute liegen. Darum kümmern sich die Ärzte dann am Wochenende, ihre Partner fahren mit den Kindern derweil allein in den Zoo.

Am Nachmittag Hausbesuch im Nachbardorf. Den Abend zuvor ist Friedmund Dumke, 79, gestürzt und mit dem Kopf gegen die Herdscheibe gestoßen. Die ist dabei gebrochen, genau wie Dumkes Hand. „Das hätte böse ausgehen können“, sagt Kuper ernst, betastet erst die Schürfwunde am Kopf, dann die leblose Hand. „Schmerzen?“ Dumke schüttelt den Kopf. Seit einer Hirnblutung ist er halbseitig gelähmt. Kuper misst Blutdruck, signiert Rezepte, plaudert über Weihnachten und Kartoffelsuppe.

Die Sprechstundenhilfen stecken in der Praxis nervös die Köpfe zusammen. Wo wohl der Doktor bleibt? Der Drucker spuckt ein Rezept nach dem anderen aus, das Telefon will einfach nicht stillstehen. Während aus dem Wartezimmer Husten und Röcheln tönt, lauert die nächste Welle schon vor der Tür. Die heißt dieser Tage Grippe.

Torsten Kuper läuft zum Auto, die Zeit läuft wieder gegen ihn. „Beim nächsten Mal dann Kekse, ja?“, ruft er Dumkes Frau noch zu. Die lacht und nickt. „Man schafft den Job nicht, wenn man muss“, sagt Kuper. „Man muss es wollen.“

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