Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Behandlungsfehler 30 000 Euro für ein verpfuschtes Leben

Ralf Weber aus Uplengen nimmt täglich Morphium. Der 28-Jährige kämpft gegen die ständigen Schmerzen im Brustkorb. Die hat hat er seit einer rechtswidrigen Operation an der Lunge.
29.03.2020, 05:34 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
30 000 Euro für ein verpfuschtes Leben
Von Martin Wein

Uplengen/Westerstede. An Arbeiten ist nicht zu denken. Ständig fühlt Ralf Weber aus Uplengen sich benommen. Nicht einmal Autofahren oder ein längerer Spaziergang ist für ihn drin. Das kommt vom Morphium, das der 28-Jährige jeden Tag in Tablettenform nimmt. Gegen die ständigen Schmerzen im Brustkorb. Die hat Weber seit mehr als zehn Jahren, als der damals noch Minderjährige in der Ammerlandklinik rechtswidrig an der Lunge operiert wurde. Seither hat Weber den Kampf um Schadenersatz notgedrungen zu seinem Lebensinhalt gemacht. Obgleich ihm die höchsten Instanzen letztlich Recht gaben, hat der Patient jetzt kapituliert und einem Vergleich zugestimmt. Knapp 30 000 Euro erhält der Ostfriese für ein dauerhaft verpfuschtes Leben.

Mit 17 Jahren plante Weber, ein begeisterter Segelflieger, ein Studium zum Flugzeugmechaniker. Doch am 4. November 2009 brachte sein Vater ihn mit starken Schmerzen im Brustkorb in die Klinik nach Westerstede. Durch ein 4,5 Zentimeter langes Loch entwich bei jedem Atemzug Luft aus Webers Lunge in den Brustkorb. Spontanpneumothorax – ein typischer Defekt bei schlanken jungen Männern oft nach kräftigem Abhusten. Normalerweise wird in solchen Fällen mit einem Schlauch die Luft aus dem Zwischenraum zwischen Lunge und Rippenfell gesaugt. Die Lunge bläht sich dann wieder auf. Meist verheilt der Riss von selbst.

Doch der behandelnde Arzt im Thorax-Zentrum riet sofort zum Eingriff. „Mir wurde die Lungenspitze entfernt und der Rest mit Talkumpuder großflächig am Rippenfell festgeklebt“, erklärt der Patient. Als er aus der Narkose aufwachte, hatte Weber unerträgliche Schmerzen. Der Operateur nahm das nicht ernst, nannte den Jugendlichen angeblich ein „Weichei“. Das Gewebe wuchs derweil zusammen. Seither ist jeder Atemzug schmerzhaft. Über die Standardtherapie und die Risiken des Eingriffs seien er und sein Vater nicht angemessen aufgeklärt worden. Sagt er. Tatsächlich wurde der Aufklärungsbogen nicht vom Operateur selbst unterschrieben. Der Vater sagte später unter Tränen, er habe im Schwestern-Zimmer einen Blanko-Wisch für den minderjährigen Sohn unterschrieben. Das Landgericht Oldenburg schlug sich zunächst auf die Seite der Klinik und wollte keinen Behandlungsfehler erkennen. Doch vor dem Oberlandesgericht gab der Arzt zu, den Bogen nachträglich „korrigiert“ zu haben. Das Gericht hielt daraufhin die Aufklärung für mangelhaft und die Operation mithin für rechtswidrig und im juristischen Sinne für eine Körperverletzung.

Nachdem schließlich der Bundesgerichtshof vor drei Jahren eine Nichtzulassungsbeschwerde der behandelnden Klinik ablehnte, sahen Weber und seine Eltern sich endlich auf der Zielgeraden. Gegen einheitliche Rechtsprechung sei nicht verstoßen und ein grundsätzliches Rechtsinteresse an einer weiteren Revision nicht erkennbar, urteilten die obersten Bundesrichter. Wenig später wurde gegen den behandelnden Arzt wegen Urkundenfälschung ein Strafbefehl in Höhe von 6000 Euro verhängt. Das Geld ging an eine gemeinnützige Organisation.

Seither musste Weber allerdings lernen, dass Recht haben und Recht bekommen zwei unterschiedliche Dinge sind. Denn einen Anspruch auf eine Rente in Folge der rechtswidrigen Behandlung sah das Landgericht Oldenburg zunächst trotzdem nicht als gegeben an. Der Patient müsse schließlich aktiv beweisen, dass seine Schmerzen auch von der Operation herrührten. „Meine behandelnden Ärzte haben das immer bestätigt“, sagt Weber. Als juristischer Beweis reichte das nicht. Ein gerichtlich bestellter Gutachter attestierte daraufhin Rückenleiden als Ursache der Schmerzen. Und das, obgleich in der von ihm selbst zitierten Literatur Dauerschmerzen als mögliche Folge der Operationsmethode ausdrücklich genannt werden.

Ralf Weber ist kein Einzelfall. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen registrierte 2018 bundesweit 3497 Behandlungsfehler. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz rechnet mit einer hohen Dunkelziffer und bis zu 100 000 Betroffenen. Die hätten es fast immer schwer, ihre Ansprüche vor Gericht durchzusetzen, glaubt Stiftungsgeschäftsführer Eugen Brysch. Er sagt: „Es kann nicht sein, dass allein der Patient den Schwarzen Peter hat“. Seit Jahren fordert er deshalb eine Beweislastumkehr zu Gunsten der Betroffenen.

„Wir konnten einfach nicht mehr“, sagt Weber nach dem letzten Verhandlungstag in Oldenburg. Vor allem aus Rücksicht auf seine Eltern nahm er den Vergleichsvorschlag des Gerichts an. 27 000 Euro Schmerzensgeld erhält der mittlerweile 28-Jährige und rund 3000 Euro Schadenersatz für Anwaltskosten. Mit einem anerkannten Schmerzsyndrom II. Grades kann Weber nicht mehr arbeiten. Er lebt in staatlicher Grundsicherung bis heute im Haushalt der Eltern. Eine Berufsunfähigkeitsrente steht ihm nicht zu, da er mit 17 Jahren noch nicht berufstätig war. „Enttäuscht bin ich, dass sich selbst nach dem letzten Beschluss des Bundesgerichtshofs niemand von der Klinik gemeldet hat, um sich zu einigen“, sagt der Patient. Auch gegenüber unserer Zeitung will sie mit Verweis auf den Datenschutz nicht Stellung nehmen. Der Chirurg entschuldigte sich in all den Jahren ebenfalls nie.

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)