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Reform-Auswirkungen auf die Tagespflege Sorge um die Existenz

Bianca Boss betreibt in Langwedel und Kirchlinteln Tagespflegen und macht sich große Sorgen. Denn die geplante neue Pflegereform hätte fatale Auswirkungen auf ihre Betriebe und das Leben der Pflegebedürftigen.
29.03.2021, 17:15 Uhr
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Sorge um die Existenz
Von Marius Merle

Langwedel. An einem Tisch malt eine Pflegerin zusammen mit einer Seniorin ein Bild aus. Einen Tisch weiter wird ein Würfelspiel gespielt. Und etwas abseits im Aufenthaltsraum hat es sich eine ältere Frau in einem Sessel bequem gemacht. Bei der Hubertus Tagespflege in Langwedel läuft der Betrieb auch in der aktuellen Corona-Zeit weiter. Alte, kranke oder pflegebedürftige Menschen werden morgens zuhause abgeholt, tagsüber in der Einrichtung an der Großen Straße gepflegt, versorgt und betreut und dann wieder nach Hause gebracht. Doch Betreiberin und Eigentümerin Bianca Boss macht sich große Sorgen, dass sie dieses Angebot im kommenden Jahr nicht weiter aufrecht erhalten kann. Denn die vom Bundesministerium für Gesundheit geplante Pflegereform sieht massive Kürzungen der Pflegesachleistungen für Tagespflegen vor, wodurch die Einrichtungen in ihrer Existenz bedroht seien. „Viele kleine, familiäre Tagespflegen wie wir werden es nicht schaffen“, prognostiziert Boss.

Sie betreibt mit dem Landhaus Luttum im Landkreis Verden noch eine weitere Tagespflege und beschäftigt insgesamt 26 Mitarbeiter. Das volle Platzangebot steht aufgrund der Pandemie, weswegen die Einrichtungen zwischenzeitlich sogar mehrere Monate geschlossen waren, derzeit nicht zur Verfügung. In Langwedel sind es täglich aktuell meist zwölf Gäste, in Kirchlinteln 14 bis 16. Betreut werden ältere und pflegebedürftige Menschen aus dem ganzen Landkreis-Gebiet. „Der Bedarf ist richtig groß“, betont Boss. So gebe es auch eine Warteliste. Besonders stark zugenommen habe die Nachfrage nach der großen Pflegereform 2016, durch die das Tagespflegebudget deutlich angehoben wurde, wodurch sich mehr Bedürftige das Angebot häufiger leisten konnten.

Budget soll halbiert werden

Doch genau das soll nun wieder rückgängig gemacht werden. Menschen, die sowohl Tagespflege als teilstationäres Betreuungsangebot als auch ambulante Pflegedienste in Anspruch nehmen, sollen künftig das Budget zur Nutzung der Tagespflege halbiert bekommen. Für den mobilen Pflegedienst bleibt es bei 100 Prozent. Ziel der neuen Regelungen ist es laut Gesundheitsminister Jens Spahn, „Fehlanreize" durch die Kombination diverser ambulanter und teilstationärer Pflegesachleistungen zu verhindern. Für Boss absolut unverständlich. Denn fast alle Gäste, sie sie in ihren Tagespflegeeinrichtungen begrüßt, müssen nun einmal auch auf mobile Pflegedienste zurückgreifen, weil sie selbst nicht mehr fit genug sind.

Die Langwedelerin nennt einige Beispiele: „Wir betreuen pflegebedürftige Senioren, die von ihren Kindern betreut werden, aber nicht rund um die Uhr Zeit dafür haben, da sie ja auch noch berufstätig sind und vielleicht auch selber Kinder haben. Wir betreuen Senioren, die von ihren Ehepartnern gepflegt und betreut werden, die selber schon 80 Jahre und älter sind. Wir betreuen Senioren, die zuhause vereinsamen, weil der Ehepartner verstorben ist und keine Familie vor Ort ist. Wir betreuen demente Menschen, weil diese im fortgeschrittenen Stadium ihren Angehörigen über die Grenzen hinaus alles an Kräften abfordern.“ Für alle diese Fälle habe eine Kürzung des Tagespflegebudgets um die Hälfte große Auswirkungen.

Letzter Ausweg Pflegeheim

Denn so gut wie niemand könne den nun fehlenden Betrag aus privaten Mitteln aufbringen. Die Folge: Die Betroffenen kommen nur noch an der Hälfte der Tage in die Tagespflege. Bei gesundheitlich noch halbwegs fitten und allein lebenden Senioren führe das schnell zur geistigen und körperlichen Verkümmerung, bei Pflegebedürftigen können die Konsequenzen schnell gravierend sein. Nicht nur, dass die Belastung für die Angehörigen steigt, auch Jobs müssten von ihnen eventuell gewechselt oder gekündigt werden, um eine Pflege rund um die Uhr gewährleisten zu können. Der einzige Ausweg sei laut Boss dann wohl oft nur noch, die Betreuung im häuslichen Umfeld aufzugeben. „Sie zwingen die Leute durch die neue Reform dazu, die Angehörigen ins Pflegeheim zu schicken.“

Und genau das könne doch nicht das Ziel sein – zumal es weder genügend Pflegeplätze noch das zuständige Personal dafür gebe. „Herr Spahn nimmt Familien den Wunsch, ihre Angehörigen bis zum letzten Tag zuhause zu behalten“, klagt Boss, die sich aber auch bei den Fällen, wo eine Betreuung zuhause weiterhin gewährleistet wird, Sorgen macht. Denn je größer die Belastung für alle Beteiligten, desto höher das Risiko für häusliche Gewalt im Alter. Ein Thema, das laut Boss leider „totgeschwiegen“ werde.

Bei all den befürchteten Auswirkungen auf das Leben ihrer Gäste und deren Angehörigen, macht sich Boss natürlich auch Sorgen um die eigene berufliche Existenz. Denn – Warteliste hin, Warteliste her – die Nachfrage nach ihrem Tagespflegeangebot werde durch die neue Reform erheblich sinken. So bleibt derzeit eigentlich nur die Hoffnung, dass sich an den Reformplänen eventuell doch noch etwas ändert. Dafür sei natürlich Widerstand nötig. Leider habe es eine ganze Zeit gedauert, bis sich aus der Branche öffentlicher Unmut geregt hat. Auch eine bereits Anfang Februar gestartete Online-Petition habe in den inzwischen fast zwei Monaten nur ein Drittel der als Zielmarkte gesetzten 50.000 Unterstützer gefunden. „Aber: Bundesweit werden die Tagespflegen langsam wach“, hofft Boss, dass es noch nicht zu spät ist.

Weitere Informationen

Die Tagespflege

Die Tagespflege ist ein teilstationäres Betreuungsangebot für Menschen, die in ihrem Alltag Pflege und Hilfe benötigen, aber weiterhin zu Hause wohnen bleiben möchten. Die Tagespflege ergänzt somit die Versorgung durch Angehörige und zumeist auch durch ambulante Dienste. Die alten, kranken oder pflegebedürftigen Menschen halten sich – an einem oder mehreren Wochentagen – tagsüber in der Tagespflegeeinrichtung auf und sind abends dann wieder in ihrer bekannten Umgebung. Voraussetzung für die Tagespflege ist, dass Betreuung und Versorgung in der Zeit zu Hause sichergestellt sind.

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