Also das ist Fred Tesch echt noch nie passiert. Fast 3800-mal ist er im Heide-Park Soltau mit der Achterbahn Colossos gefahren, und nun hat er doch tatsächlich vergessen, sich anzuschnallen. Eine Mitarbeiterin des Parks muss ihn darauf aufmerksam machen. Und weil sie Tesch kennt, genießt sie das Ritual. Also alle Bügel, auch die der übrigen Fahrgäste, wieder auf. Dann legt Tesch den Gurt an, und die Bügel schließen wieder. Jetzt erst kann die wilde Reise beginnen.
Dass ausgerechnet ihm das passiert. „Das kommt davon, wenn man zu viel mit seinem Sitznachbarn redet“, sagt er. Fred Tesch ist der Achterbahn-König, so hat ihn zuerst seine Familie genannt, und inzwischen nennt er sich auch selbst so. Der 69-Jährige hat 69 Freizeitparks in acht Ländern besucht. Er ist 252 verschiedene Achterbahnen gefahren, er hat dabei 55.000 Loopings gemacht und 22.000 Kilometer Schiene zurückgelegt, das ist einmal um die halbe Welt. Ist Fred Tesch ein Verrückter? Er lacht, nein, verrückt sei er nicht, aber gut, sein Hobby sei ungewöhnlich, das müsse er zugeben. Wer ist schon 2500-mal Krake gefahren, wer 2500-mal Desert Race?
Am nächsten Fahrgeschäft, am „Flug der Dämonen“, wird Tesch mit großem Hallo begrüßt. Man kennt ihn auch hier, vermutlich sogar am besten, kein Wunder bei 9982 Fahrten seit Inbetriebnahme der Bahn im Jahr 2014. Die 10 000er-Marke ist beim Erscheinen dieses Textes längt geknackt. Als der WESER-KURIER Fred Tesch trifft, ist es erstmals seit eineinhalb Wochen wieder wärmer, die Sonne scheint, fast alle Bundesländer haben Ferien. Der Park ist voll, entsprechend lang sind die Schlangen an den Fahrgeschäften. 75 bis 90 Minuten Wartezeit verraten die Anzeigen. Tesch aber muss nicht warten.
VIP-Karte verhindert das Schlangestehen
Er ist stolzer Besitzer des Express Butlers, einer Art VIP-Karte. Es gibt sie in drei Kategorien, Bronze, Gold und Platin, sie kostet deutlich mehr als eine Tageskarte, dafür fällt aber das Schlangestehen fast vollständig weg. Das ist sehr bequem, und wenn man wie Tesch regelmäßig auf Rekordjagd ist, sogar notwendig. 70-mal „Flug der Dämonen“ an einem Tag, am 12. April 2016 hat er das geschafft. 70 Fahrten an einem Tag, die kommen aber nur zusammen, wenn es zügig vorangeht.
Tesch trägt ein schwarzes T-Shirt, Aufschrift Achterbahnkönig. Auf die Rückseite hat er sich ein paar seiner Tagesrekorde drucken lassen: 123 x Krake. 70 x Flug der Dämonen. 81 x Desert Race. 64 x Colossos. 30 x Formula Rossa. Formula Rossa steht in der Ferrari-World in Abu Dhabi, „aber davon erzähle ich Ihnen nachher mehr“, sagt Tesch. Jetzt muss er erst einmal vier Jugendlichen erklären, wie man das schafft: 123-mal Krake zu fahren an einem Tag. „Dann haben Sie ja mindestens 123 Stunden gewartet“, hat einer ausgerechnet. Nicht ganz, Tesch zeigt auf seinen Express Butler. Und eigentlich hätte er bei dieser Gelegenheit auch noch seine Autogrammkarten unters Volk bringen können.
Wenn Tesch seine Runden durch die Anlage dreht, dann ist er der perfekte Botschafter für den Heide-Park. Er arbeitet, seitdem er Rentner ist, auf 450-Euro-Basis hier, aber eigentlich ist seine Anwesenheit unbezahlbar. Weil Tesch nicht auf den Mund gefallen ist, und weil man ihn am T-Shirt leicht erkennt, ist er nie lange allein. Seit 2010 fährt er fast jeden Tag, immer für mehrere Stunden. Wird das denn nie langweilig? „Nie“, sagt er, „ich sitze ja jedes Mal neben einem anderen Menschen, und dann erleben Sie die dollsten Sachen.“
Weiß seine Mitfahrer zu beruhigen
Seine Sitznachbarn haben gekreischt, geweint, gezittert, gelacht, ihn gekniffen und ihm ins Ohr geschrien. Wer an Tesch gerät, hat Glück. Tesch weiß, wie er aufgeregte Mitfahrer beruhigen kann, er teilt sein Wissen gern. So wie jetzt, als es rauf geht beim „Flug der Dämonen“. Wer vorne sitzt, hat den besten Blick, hinten merkt man die Geschwindigkeit am besten, in der Mitte fühlt man sich am sichersten. Tesch sitzt am liebsten hinten. 40 Meter geht es nun steil nach oben, es folgen acht Flugmanöver, davon fünfmal kopfüber bei Tempo 100. Jeder Effekt hat einen eigenen Namen: Wing over Drop, Highspeed Camelback, Brezel, also zweimal kopfüber, oder Immelmann, „das ist ein halber Looping mit Drehung“, sagt Tesch. Dahinter steckt eine Wissenschaft. Die Ingenieure der großen Entertainment-Konzerne müssen sich regelmäßig etwas Neues einfallen lassen, damit es den Besuchern nicht langweilig wird.
Tesch kennt sie alle, die Fachbegriffe und die physikalischen Geheimnisse. 4g wirkt auf die Fahrgäste, dass heißt, sie werden mit dem bis zu Vierfachen ihres Körpergewichts in die Sitze gedrückt. Ist das nicht gesundheitsgefährdend, vor allem wenn man es so exzessiv wie Tesch betreibt? „Ich bin kerngesund“, sagt er, „für mich ist das Entspannung pur, es hält mich jung, ich suche nicht den Kick.“ Einmal, in Holland Mitte der 80er-Jahre, war ein Gurt defekt. Die Bahn ist trotzdem losgefahren. Da hatte er Angst, aber das war das einzige Mal.
Tesch hat heute einen Aktenordner dabei. Dort hat er jeden Parkbesuch, jede Achterbahn mit ihren technischen Daten und jede Fahrt in einer Excel-Tabelle akribisch dokumentiert. An seiner Umhängetasche baumelt ein Zähler, nach jeder Fahrt drückt er aufs Knöpfchen, und die Fahrt ist registriert. Dafür, dass alle Angaben stimmen, garantieren die Mitarbeiter in den Parks. Sie führen Buch über seine Fahrten. In Abu Dhabi bei den Scheichs, wo alles größer und ausgefallener ist als im Rest der Welt, ist Tesch an einem Tag 30-mal Formula Rossa gefahren, die schnellste Achterbahn der Welt. „Mister Fred“ haben sie ihn dort genannt.
Tesch fährt Achterbahn, seit es Freizeitparks in Deutschland gibt, also seit Mitte der 1970er-Jahre. Als er 60 wurde, da war er schon geschieden, schenkten ihm seine Kinder ein T-Shirt mit der Aufschrift „Achterbahnkönig“. Das fand er rührend, und es spornte ihn an. Vier Tage, nachdem er Rentner geworden war, trat er eine ganz besondere Tour an, seine
Initiation: 7700 Kilometer, 24 Parks in 26 Tagen, einmal drei an einem Tag. Danach hat er nie wieder runtergeschaltet.
Vor vier Jahren ist er aus Münster, wo er 40 Jahre als Küster und Hausmeister bei der Kirche gearbeitet hat, nach Soltau gezogen. Um näher am Heide-Park zu sein. Im Dezember treibt es ihn noch einmal in die Ferne. Wieder nach Abu Dhabi, zwei Wochen lang. „Dann“, sagt er, „dann werde ich dort die Parks wieder rocken.“