Heute ist die Eishockey-Partie zwischen Russland und den USA nur ein Gruppenspiel – vor 30 Jahren, als Russland noch Teil der damaligen Sowjetunion (UdSSR) war, wurde der Vergleich indes zum historischen Ereignis: Der Dauer-Olympiasieger UdSSR unterlag den USA. Für die einen der größte Triumph des Jahrhunderts, für die anderen die größte Schmach.
Gäbe es die Sowjetunion noch, einige Menschen in Russland wüssten vielleicht immer noch nicht, was sich am 22. Februar 1980 in Lake Placid zutrug. Die Parteizeitung Prawda verlor über das entscheidende Olympia-Endrundenspiel im Eishockey zwischen der UdSSR und Gastgeber USA kein Wort. Doch wer live am Fernseher zusah, den konnte selbst die Partei nicht schützen, weshalb sich Dimitri Tschernischenko, Chef des Organisationskomitees der Spiele von Sotschi, dieser Tage mit folgendem Bonmot zitieren ließ: „Von meiner Kindheit erinnere ich mich an drei Horrorfilme aus dem Westen: ‚Nightmare‘, ‚Freitag, der 13‘. Und ‚Miracle on Ice‘.“
Wenn Russland und die USA heute im Bolschoi-Dom von Sotschi aufeinandertreffen, dann spielt auch die Erinnerung mit an den „größten Sportmoment des 20. Jahrhunderts“. Dazu wurde das Spiel in Amerika gewählt. Oder eben an die größte Schmach. Im Eishockey ist Russland noch mehr als in anderen Bereichen der natürliche Nachfolger der Sowjetunion. Bis auf einen Letten standen 1980 nur Russen im Kader des Olympiateams, darunter der heutige Coach Sinetula Biljaletdinow und der heutige Verbandspräsident Wladislaw Tretjak. Der erlebte damals noch eine persönliche Demütigung – aber dazu später. Fest steht, dass das heutige Spiel seit Tagen die Gespräche, Hoffnungen und Ängste bei den ersten Winterspielen auf russischem Boden dominiert, weil es so nahe wie nie zuvor einer Revanche gleichkommt; einer Revanche, die es vollumfänglich nie geben kann, weil es ja um ein Wunder geht.
Am 22. Februar 1980 war die Welt in zwei Fronten geteilt. Wegen des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan befürworteten die USA einen Boykott der Sommerspiele in Moskau; das hatte Außenminister Vance just zwei Wochen vorher dem IOC mitgeteilt. Am selben Tag hatten die Eishockeymannschaften der USA und der UdSSR ein Testspiel in New York bestritten. Es endete 3:10 und galt als akkurater Ausdruck der Stärkeverhältnisse zwischen beiden Mannschaften.
Die Sowjetunion, mit Torwart Tretjak, mit Legenden wie Boris Michailow oder Walerij Charlamow, mit jungen Ausnahmetalenten wie Wjatscheslaw Fetissow und Sergej Makarow, war damals so gut, dass sie seit 1964 alle Turniere bei Olympischen Spielen gewonnen hatte und im Jahr zuvor beim Challenge Cup eine NHL-Allstar-Auswahl mit 6:0 vom Eis gefegt hatte. Demgegenüber waren die USA noch Eishockey-Entwicklungsland. In der NHL spielten fast nur Kanadier. Bei Olympia trat Amerika mit einer College-Auswahl an, Durchschnittsalter 21 Jahre. Aber Trainer Herb Brooks infizierte die Spieler mit dem Glauben an eine Mission: „Ihr seid hierfür geboren worden. Ihr seid auserkoren, hier zu sein. Dieser Moment gehört Euch.“
Vor einem aufgeputschten Heimpublikum lagen die USA 1:2 zurück, als Tretjak wenige Sekunden vor dem Ende des ersten Drittels einen auf gut Glück abgefeuerten Schlagschuss aus 30 Metern nach vorne abprallen ließ und das 2:2 kassierte. In der Drittelpause tat Viktor Tichonow das Undenkbare – und ersetzte den weltbesten Torhüter durch Ersatzmann Wladimir Myschkin. „Der größte Fehler meiner Karriere“, sagt der Trainer bis heute. Die USA glaubten jetzt noch mehr. „Ohne Tretjak hatten wir weniger Ehrfurcht“, sagte Kapitän Mike Eruzione.
Nachdem die Sowjets im zweiten Drittel wieder in Führung gegangen waren, glichen die Amerikaner im Schlussdrittel aus – zuvor hatten sie in 27 Minuten nur zwei Schüsse auf Myschkin zustande gebracht. Über das gesamte Spiel lautete das Schussverhältnis 16:39, aber es war Eruzione, der das 4:3 erzielte, und es war US-Goalie Jim Craig, der über sich hinauswuchs und keinen Schuss mehr passieren ließ. Amerika sicherte sich zwei Tage später die Goldmedaille durch einen Erfolg gegen Finnland, während die immer noch fassungslosen Sowjets zwar Schweden demontierten, aber sich weigerten, ihre Namen auf die Silbermedaillen gravieren zu lassen.
Die USA entdeckten durch das vielfach verfilmte Wunder ihre Liebe zum Eishockey; in der Folge wuchs die NHL zur vierten großen Profiliga Nordamerikas. Sie ernährt heute unzählige US-Profis und auch die meisten russischen Stars. Sowieso habe es unter den Spielern selbst nie politische Probleme gegeben, betonte Tretjak dieser Tage: „Kalt war es nur über uns“. Dass heute dennoch nicht mit einem x-beliebigen Gruppenspiel zu rechnen ist, wurde klar, als er am Dienstag, von einem amerikanischen Journalisten angesprochen, sagte: „1984 haben wir unseren Fehler korrigiert“. Und sind dafür von den russischen Journalisten mit Szenenapplaus bedacht worden. Das letzte Duell bei der WM 2013 gewannen die Amerikaner mit 8:3.