Nicole Wesner passt überhaupt nicht ins typische Boxklischee. Die studierte Wirtschaftswissenschaftlerin spricht sechs Sprachen, gibt im Alter von 35 Jahren eine gut bezahlte Arbeitsstelle auf und lebt von ihrem Ersparten, um Profiboxerin zu werden. Dabei hat sie sich zuvor nicht für diesen Sport interessiert. Am 6. Dezember kämpft sie nun um den WM-Titel.
Manchmal, sagt Nicole Wesner, denke sie schon noch an ihr altes Leben zurück, an all die Möglichkeiten, die sie dort hatte. Es ist dann, als kehre sie kurzzeitig in eine Welt zurück, in der sie mal gelebt hat, aber – zumindest momentan -– nicht mehr leben will, eine Welt, die ihr auch ein bisschen fremd geworden ist. Es ist eine Welt mit einer großen Wohnung. Eine Welt, mit vielen Reisen. Und eine Welt, mit einem gut gefüllten Konto. „Ich könnte auch weiterhin mein geregeltes Leben führen“, sagt Wesner. Aber genau das will sie nicht. Sie will ihren Traum leben. Ihren Traum, eine richtig gute Boxerin und sogar Weltmeisterin zu werden. Am Samstag, 6. Dezember, kämpft sie gegen Gina Chamie um den derzeit vakanten WIBF-Gürtel.
Um diesen Traum zu leben, hat sie 2012 etwas getan, was in ihrem Umfeld für viel Kopfschütteln sorgte. Sie hat ihren gut bezahlten Job als Produktmanagerin eines Pharmaunternehmens gekündigt, ist aus ihrer Altbauwohnung in Wien ausgezogen, ist Profi geworden. Man muss wissen: Nicole Wesner ist nicht irgendein hoffnungsvolles Talent, Nicole Wesner ist zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt.
Erst im Alter von 32 Jahren beginnt sie mit dem Boxen. Und das eher zufällig: Eigentlich will sie einen Yogakurs besuchen, landet aber in einem Boxschnuppertraining – obwohl sie sich bis dahin überhaupt nicht für die Sportart interessiert. Sie hat bald den Wunsch, einen Kampf zu absolvieren. Wenigstens einen. Sie steigt in den Ring („Die ersten Runden war ich wie weggetreten“) – und gewinnt. Es bleibt nicht bei diesem einen Kampf, kurze Zeit später wird sie bereits österreichische Staatsmeisterin.
Zu diesem Zeitpunkt trainiert Wesner, gebürtige Rheinländerin, die 22 Jahre in Mannheim lebte und nun in Wien zu Hause ist, längst zweimal am Tag. Morgens und abends. Dazwischen arbeitet sie acht, neun Stunden. Bis jener Tag kommt, an dem sie eine Entscheidung trifft, die ihr Leben in ein altes und ein neues teilt: Sie kündigt ihren Job und wird Profiboxerin. In einem Alter, in dem andere ihre Karriere beenden. „Es ist doch keine Frage des Alters. Es ist eine Frage des Willens“, sagt Wesner, mittlerweile 37.
Es ist eine Sportkarriere, von der man denkt, die kann es doch gar nicht geben. Eine gut aussehende und gut situierte Akademikerin, die so ziemlich alles hat, was man gemeinhin in seinem Leben braucht, um glücklich zu sein, wagt eine Art sozialen Abstieg – und führt diesen ausgerechnet in einer Sportart aus, die oftmals den sozialen Aufstieg ermöglicht. „Boxen gibt mir so viel, finanzielle Sicherheit ist mir nicht so wichtig“, sagt Wesner. Auch wenn sie drei Jahre lang mit rund einem Fünftel dessen, was sie früher hatte, auskommen muss, von Erspartem lebt. Erst seit wenigen Wochen hat sie einen Sponsor, der wenigstens ihre Fixkosten deckt.
Sie war nicht unglücklich, nicht unzufrieden mit ihrem Leben. Es war nur so, dass sie ihr Leben leben wollte, dass sie wusste, sie hat eine Chance. Genau diese eine Chance, das zu machen, was ihr Herz ihr empfahl. „Andere erzählen ihr ganzes Leben von ihrem Traum, setzen ihn aber nicht in die Tat um“, sagt Wesner. Sie hat es gemacht. Auch wenn andere sie deshalb für verrückt halten. „Einige Leute finden es schon schräg, dass ich studiert und gearbeitet habe und dann fürs Boxen alles hinwerfe“, erzählt Wesner.
Es ist ihr egal. Sie geht ihren Weg, boxt sich im wahrsten Sinne des Wortes nach oben. Die Leichtgewichtsathletin gewinnt Profikampf um Profikampf, drei der ersten sieben durch K.o., holt sich im Herbst dieses Jahres den Intercontinental-Titel der WIBF, dem ältesten Frauenboxverband der Welt. Es ist ihre Eintrittskarte für den WM-Kampf, in dem für sie nur der Titel zählt.
„Wenn ich für eine Sache brenne, ziehe ich sie durch“, sagt Wesner. Das war schon immer so. Als sie vor ein paar Jahren in Portugal im Urlaub war, setzte sie sich in den Kopf, Portugiesisch zu lernen. Drei Monate später konnte Wesner die Sprache – wie übrigens auch fünf andere. Ihr Ehrgeiz, ihre Besessenheit erklären vermutlich am besten, wie sie einen Weg gehen konnte, den eigentlich niemand geht.