Immer mehr kleine Kinder zeigen Verhaltensauffälligkeiten. Zu dieser Feststellung kommt Ann-Christin Senger, die Leiterin der heilpädagogischen Frühförderung der Lebenshilfe Delmenhorst. Die heilpädagogische Frühförderung wird aktiv, wenn Kinder Auffälligkeiten in ihrer Entwicklung aufweisen, etwa in der Wahrnehmung oder in ihrem Verhalten. Dies gilt auch für Kinder, bei denen eine körperliche, geistige oder eine Sinnesbeeinträchtigung vorliegt und ebenso für frühgeborene Kinder.
Senger führt in Kitas und Krippen Bedarfsprüfungen durch: Sie beobachtet Kinder auf eventuelle Verhaltensauffälligkeiten und gibt dann den Eltern Empfehlungen, ob und welche Maßnahmen der heilpädagogischen Frühförderung Sinn machen würden. „Ziel der Frühförderung ist es, auf entwicklungshemmende Beeinträchtigungen oder Auffälligkeiten positiven Einfluss zu nehmen“, sagt Senger. Erreicht werden könne dies durch individuell auf das Kind und den Beratungsbedarf der Familie abgestimmte Maßnahmen, damit die Beeinträchtigung möglichst wenige negative Folgen für Kind und Familie haben. „Gerade in der frühkindlichen Entwicklungsphase besteht die größtmögliche Chance einer Einflussnahme“, erklärt Senger.
Pädagogische und therapeutische Maßnahmen für Kinder, die von einer Behinderung betroffen oder bedroht sind, gebe es bereits seit mehreren Jahrzehnten, berichtet auch Erwin Drefs, der Geschäftsführer der Lebenshilfe Delmenhorst. „Schon die Urväter der Lebenshilfe hatten die Devise, dass Kinder mit geistigen Beeinträchtigungen so früh wie möglich gefördert werden sollten“, sagt Drefs. „Durch eine gute heilpädagogische Förderung kann eine drohende Behinderung auch vermieden werden, zum Beispiel eine Sprachbehinderung.“
Inhaltlich habe sich die Frühförderung jedoch stark verändert. Während in den 1970er-Jahren die Maßnahmen überwiegend aus Spielen mit den Handicap-Kindern bestand, sind im Laufe der Jahrzehnte zahlreiche heilpädagogische Verfahren und Methoden hinzugekommen. Senger nennt „Marte Meo“ als ein Beispiel für einen Bereich, in dem sie sich fortgebildet habe. Bei dieser Methode werden alltägliche Situationen zwischen Erziehenden und Kind per Video aufgezeichnet, vom Pädagogen analysiert und anschließend als Informationsquelle und als Erklärungsmittel bei der Beratung genutzt.
Gesellschaftliche Teilhabe
Laut Drefs sind die Maßnahmen der heilpädagogischen Frühförderung grundsätzlich kostenfrei für die Familien, da es sich um eine staatliche Leistung handelt. „Mit diesen Leistungen soll eine Behinderung abgewendet, beseitigt, gemindert, ihre Verschlimmerung verhütet oder ihre Folgen gemildert werden“, zitiert der Lebenshilfe-Geschäftsführer den entsprechenden Paragrafen des Sozialgesetzbuchs, der die gesellschaftliche Teilhabe des Kindes und der Eltern ermöglichen soll.
Hierzu müssen die Eltern einen entsprechenden Antrag bei der Stadt Delmenhorst stellen. Der „Fachdienst 23“ prüft dann, ob beim Kind eine Beeinträchtigung vorliegt und bewilligt gegebenenfalls die Frühfördereinheiten – meist für einen Zeitraum von einem Jahr, sagt Senger. Aktuell betreut die Lebenshilfe Delmenhorst 72 Familien mit wöchentlich 86 Frühfördereinheiten à 90 Minuten. Vornehmlich fahren die Pädagogen zu Kindern nach Hause, aber auch eine Betreuung in der Kita oder in den Räumen der Lebenshilfe in der Bismarckstraße ist möglich.
Über 2000 Frühfördereinheiten leistete die Lebenshilfe 2018, die Tendenz ist seit einigen Jahren steigend. „Früher wurden mehr klassische Behinderungsmuster wie Down-Syndrom oder Autismus festgestellt“, sagt Drefs. Heute hingegen gehe es viel mehr um Probleme wie Desorientierung und Konzentrationsschwierigkeiten, deren genaue medizinische Ursache unklar sei. „Veränderte gesellschaftliche Anforderungen“ und zu früher Medienkonsum nennt Drefs als mögliche Gründe. Auch sieht er viele Kinder von den Gegebenheiten in den Kitas überfordert.
„Immer mehr Kinder kommen in die Kitas, die Gruppen werden dadurch zu groß“, kritisiert er. In kleineren, besser strukturierten Gruppen würden die Kinder viel besser zurechtkommen. Zwar sorge das „Gute-Kita-Gesetz“ der Bundesregierung dafür, dass Eltern keine Kitabeiträge mehr zahlen müssen. Aus seiner Sicht werde aber zu wenig getan, dass es in den Kindertageseinrichtungen genügend Erzieher gibt. Hier müsse die Politik geeignete Lösungen finden, fordert Drefs.