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Patientenmorde und die Folgen "Högel ist nicht vom Himmel gefallen"

Niedersachsen hat ein neues Bestattungsgesetz bekommen. Nach den Patientenmorden von Niels Högel sollte die Patientensicherheit erhöht werden. Wurde sie aber nicht, sagt ein Gerichtsmediziner.
17.07.2018, 18:23 Uhr
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Von Andreas D. Becker
Sie haben schon während der Beratungen zur Novellierung des niedersächsischen Gesetzes über das Leichen-, Bestattungs- und Friedhofswesen massiv darauf hingewiesen, dass die Änderungen, so wie sie im Gesetz angedacht sind, nicht ausreichen. Trotzdem wurde es beschlossen. Was sagen Sie nun?

Michael Birkholz : Als Leichenschauexperte bin nicht nur ich, sondern auch der Bund Deutscher Kriminalbeamter und das Interdisziplinäre Fachforum Rechtsmedizin über die Antwort der Landesregierung auf die Massentötungen in zwei Krankenhäusern entsetzt. Die im Gesetz ergriffenen Maßnahmen sind völlig ungeeignet, Tötungen in Krankenhäusern und Altenheimen zu erkennen.

Was ist aus Ihrer Sicht falsch gelaufen?

Lassen Sie mich noch einmal zurückblicken: Der Landtag setzte als Reaktion auf die Massenmorde des Krankenpflegers Niels Högel, der in Krankenhäusern in Oldenburg und Delmenhorst mehr als 100 Patienten getötet hat, einen Sonderausschuss Patientensicherheit ein und beauftragte im September 2016 die Landesregierung, die Gesetze so zu ändern, dass sich ein Fall Högel nie wiederholen kann und Morde in Krankenhäusern und Altenheimen künftig zuverlässiger erkannt werden. Das machte Hoffnung – zumal der Sonderausschuss zu Ergebnissen kam, die von der Fachwelt seit Jahren gefordert wurden: eine Professionalisierung der Leichenschau und eine Übertragung der Leichenschau in Krankenhäusern auf externe Spezialisten.

Warum ist dieser Schritt denn nötig?

Morde in Krankenhäusern und Altenheimen sind im Regelfall Giftmorde durch Medikamentenüberdosierung. Das erkennt man im Rahmen einer äußeren Inspektion des Verstorbenen, also der herkömmlichen Leichenschau, nicht. Kommissar Zufall löst hin und wieder ein paar Fälle: Entweder werden die Täter unvorsichtig oder irgendjemandem fallen Ungereimtheiten auf. Plausibilitätsprüfungen sind wahrscheinlich die einzige Chance, derartige Taten überhaupt zu erkennen. Doch solche Plausibilitätsprüfungen kennt unser Leichenschausystem nicht.

Deswegen fielen die Högel-Morde nicht auf?

Wir suchen derartige Täter mit untauglichen Mitteln. Wer Fliegen fangen will, sollte dies nicht mit einer Mausefalle versuchen. Alle Verantwortlichen wissen um unser insuffizientes Leichenschausystem – und ignorieren das. An Warnungen und Hinweisen hat es nicht gefehlt: Bereits in den 1980er-Jahren bemängelten die Generalstaatsanwälte diesen Zustand und konstatierten, dass das gegenwärtige Leichenschausystem nicht geeignet ist, nicht natürliche Todesfälle mit der notwendigen Sicherheit zu erkennen. Man bat die zuständige Gesundheitsministerkonferenz, dies abzustellen. Ebenso wie 2009 und 2011 die Justizministerkonferenz dies tat. Gerichtsmediziner und Kriminalpolizisten lassen kaum eine Möglichkeit aus, um auf die Schwachstellen unseres Leichenschausystems hinzuweisen – jeder zweite Mord wird in Deutschland nicht erkannt –, aber die verantwortlichen Gesundheitsministerien erweisen sich als erstaunlich beratungsresistent.

Wenn die Dunkelziffer bei den Morden so hoch ist, muss der Staat doch reagieren.

Warum? Mit Leichen kann man keine Wahlen gewinnen, das hört man hinter vorgehaltener Hand. Und in der Bevölkerung gibt man sich der vagen Hoffnung hin, dass der Staat schon alles zum Wohle seiner Bürger richten wird. Nur wenn Schwachstellen in unserem Leichenschausystem offen zu Tage treten und mal wieder ein Mord übersehen wird, führt das immer zu den gleichen Effekten: Die Bevölkerung fragt erstaunt, wie kann das sein? Die Experten stellen fest: Das war zu erwarten. Und die Politik windet sich und verspricht, dass nun alles besser wird – um dann mit medial gut begleiteten Schönheitsreparaturen alles beim Alten zu belassen.

Dann kam Högel.

Ja, in dem Fall war es etwas anders. Das Ausmaß seiner Taten übertraf jedes Vorstellungsvermögen und brachte vor allem die Insuffizienz unseres Leichenschausystems für jedermann so deutlich zu Tage, dass sich die Bevölkerung nicht bereits nach einer Woche mit anderen Schlagzeilen beruhigen ließ. Diesmal musste man sich der Problematik stellen. Zudem wurde auch ein Pilotprojekt „Qualifizierte Leichenschau im Krankenhaus“ im Josef-Hospital Delmenhorst etabliert, das erstmals in der Republik ein Vieraugensystem zur Anwendung brachte und bei jedem Todesfall zeitnah eine Plausibilitätsprüfung durch einen externen Spezialisten vornimmt. Die Ergebnisse überzeugten alle Skeptiker: Die Anzahl der erkannten nicht natürlichen Todesfälle verdoppelten sich.

Im Gesetz werden diese Erkenntnisse nicht berücksichtigt?

Als das Sozialministerium den neuen Entwurf des Bestattungsgesetzes vorstellte, war die Fachwelt fassungslos: Nicht eine Kernforderung des Sonderausschusses war in die Gesetzgebung mit eingeflossen, ebenso nicht die Empfehlungen der Justizministerkonferenz und auch die Ergebnisse der Pilotstudie „Qualifizierte Leichenschau im Krankenhaus“. Dafür wurden Maßnahmen präsentiert, die auf den ersten Blick recht gut klingen, wie die Einführung von Meldepflichten und die Möglichkeit der Durchführung von Sektionen gegebenenfalls auch gegen den Willen der Angehörigen. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter, die Rechtsmedizin Verden – mit der Durchführung des Pilotprojektes in Delmenhorst beauftragt – und das Interdisziplinäre Fachforum Rechtsmedizin baten schriftlich darum, in der Anhörung am 12. April dieses Jahres gehört zu werden, um den Parlamentariern ihre Bedenken gegen den vorliegenden Gesetzentwurf vorzutragen. Allen Dreien wurde das Auftreten verweigert. Das wirft die Frage auf: Warum? Das verstärkt sich, wenn man weiß, dass die Innung der Steinmetze, die Sargtischler und die Friedhofsgärtner sehr wohl angehört wurden.

Wie beantworten Sie sich denn selbst diese Frage?

Die Antwort ist recht einfach. Aus Gründen, die nie offengelegt wurden, stand im Sozialministerium von Anfang an fest, dass die von der Fachwelt seit Jahren geforderten Reformen nicht umgesetzt werden sollen. Da durch die Serienmorde ein großer öffentlicher Druck entstanden war, bedurfte es einiger Nebelkerzen, um dies nicht offen zu Tage treten zu lassen. Mit dem Leichenschausystem ist es wie mit vielen anderen Dingen: Es ist komplizierter, als man auf den ersten Blick meinen möchte. Ein Parlamentarier hätte viel zu tun, wenn er sich zu jedem Sachverhalt, über den er beschließen muss, Tiefenkenntnisse aneignen müsste. Dazu hat er weder die Zeit und wahrscheinlich auch nicht die Lust. Er verlässt sich auf seine Partei oder das zuständige Ministerium, die ihn beraten. In einer solchen Situation kann es nur stören, wenn Experten kommen und erklären, dass man Giftmorde nicht durch die Einführung von Meldepflichten bekämpfen kann. Melden kann man nur, was man sieht.

Aber es könnte doch sein, dass das Ministerium schlicht und einfach inhaltlich eine andere Auffassung als Sie und Ihre Mitstreiter hat, oder?

Wie schwach die Position des Ministeriums ist, zeigt ein Statement der verantwortlichen Abteilungsleiterin Claudia Schröder am 14. Juni im NDR-Fernsehen: Es sei gar nicht bewiesen, sagte sie da, dass Spezialisten erfolgreicher arbeiten als Laien. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Bei der Erkennung von Morden an Alten und Kranken sind Spezialisten gar nicht gefragt, da reicht ein Wochenendlehrgang! Bei so wenig Substanz ist es kein Wunder, dass man im Ministerium die Diskussion mit Experten meidet wie der Teufel das Weihwasser. Die Dame hätte nur auf die Ergebnisse der Pilotstudie in Delmenhorst schauen müssen: Die Anzahl der erkannten nicht natürlichen Todesfälle hat sich dort durch den Einsatz von Spezialisten verdoppelt. So werden wider besseren Wissens Unwahrheiten unters Volk gebracht.

Das neue Bestattungsgesetz wurde am 12. Juni im Landtag verabschiedet.

Die Parlamentarier werden glauben, dass sie etwas Gutes für ihr Land getan haben. Die Patienten in den Krankenhäusern und die Bewohner der Altenheime versucht man in den Irrglauben zu versetzen, dass Vater Staat etwas Substanzielles für ihre Sicherheit getan hat und ein Fall Högel sich nie wiederholen kann. Die Verantwortlichen bauen darauf, dass die Täuschung nicht so schnell auffliegt. Und die Fachleute verzweifeln, weil sie mit ansehen müssen, wie verantwortungslos die Politiker mit dem Sicherheitsbedürfnis der Patienten und Altenheimbewohner umgehen.

Das neue Gesetz bringt also gar nichts?

Man könnte darüber hinwegsehen, wenn es nicht um das Leben kranker und alter Menschen ginge. Niels Högel ist nicht vom Himmel gefallen. Er ist das Produkt jahrzehntelanger Missachtung von Expertenwarnungen durch die Politik. Es wird schon nichts passieren, ist die politische Handlungsmaxime. Das wird sich irgendwann rächen. Das neue Gesetz ist für den Experten ein leicht zu durchschauender Bluff, das Sicherheit vortäuscht. Niedersachsens Krankenhäuser und Altenheime bleiben in Bezug auf das neue Bestattungsgesetz so unsicher, wie sie waren.

Das Gespräch führte Andreas D. Becker.

Zur Person

Zur Person

Michael Birkholz

studierte Medizin an der Universität Greifswald und war ab 1976 in der Facharztausbildung im Institut für Gerichtliche Medizin in Schwerin tätig. 1987 zog er nach Bremen, seit 1989 leitete er die Abteilung Rechtsmedizin im Hauptgesundheitsamt Bremen. Von 1994 bis 2015 war er Direktor des neuen Instituts für Rechtsmedizin.

Info

Zur Sache

Zur Sache

Die gute Nachricht vorweg: Das Josef-Hospital Delmenhorst ( JHD ) setzt weiterhin auf die qualifizierte Leichenschau, auch nach der Verabschiedung des überarbeiteten G esetzes über das Leichen-, Bestattungs- und Friedhofswe sen . Das teilte JHD-Geschäftführer Florian Friedel auf Nachfrage mit.

Die qualifizierte Leichenschau in Krankenhäusern durch darauf spezialisierte Ärzte – wie vom Sonderausschusses des Landtags gefordert – kam in Niedersachsen mit Hinweis auf die praktischen Schwierigkeiten bei der Umsetzung nicht zum Tragen. Zu wenig Fachärzte, die das große Flächenland Niedersachsen entsprechend rechtsmedizinisch versorgen könnten, hieß es. Birkholz argumentiert dagegen, dass man diese Kontrolle Stück für Stück hätte einführen können.

Die nun im Gesetz verankerte Meldepflicht hält er dagegen für wirkungslos, um Krankenhausmördern auf die Schliche zu kommen. Im Gesetz heißt es: " D er Arzt hat die Polizei oder die Staatsanwaltschaft unverzüglich zu benachrichtigen, wenn Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass der Tod durch eine ärztliche oder pflegerische Fehlbehandlung verursacht ist." Birkholz nennt das Verfahren einen "Karrierekiller", so sei es unwirksam.

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