Es gab durchaus Momente, in denen Niclas Füllkrug im Schatten von Marco Prießner stand. Im Oktober 2010 etwa lag Werder Bremen in der U19-Bundesliga überraschend mit 3:4 gegen den VfB Oldenburg in Rückstand. Verzweifelt rannten die Grün-Weißen an, um das Derby zumindest nicht zu verlieren. Es lief die letzte Minute, ein Abpraller segelte durch die Luft, Füllkrug und ein Mitspieler sprangen gemeinsam zum Ball, köpften ihn irgendwie zurück in den völlig überfüllten Strafraum. Dort stand Prießner mit dem Rücken zum Tor und wuchtete den Ball per Fallrückzieher zum umjubelten 4:4-Endstand ins Netz. Füllkrug der Zuarbeiter, Prießner der spektakuläre Vollstrecker. "An das Tor kann ich mich noch erinnern. Es war ziemlich viel los im Strafraum, aber der Ball kam genau zu mir, und dann habe ich ihn reingemacht", sagt Prießner nüchtern.
Seitdem ist viel passiert. Ganz Fußball-Deutschland redet momentan über Niclas Füllkrug. Sein gefeiertes Tor bei der WM in Katar zum 1:1 gegen Spanien, diesen brachialen Gewaltschuss in den Winkel, hat Marco Prießner im Fernsehen gesehen. "Ich habe mich sehr für Niclas gefreut", sagt der 30-jährige Delmenhorster, der seit Saisonbeginn für den Kreisligisten Ahlhorner SV spielt. Natürlich dachte Prießner bei dieser Gelegenheit auch noch einmal daran zurück, wie es so war mit dem Sturmpartner Füllkrug in Werders U19. Der heutige Nationalspieler ist fast ein Jahr jünger als Prießner und wurde im Februar 1993 geboren. Da er so talentiert war, durfte Füllkrug aber schon frühzeitig in der U19 spielen, die größtenteils aus Spielern des Jahrgangs 1992 bestand. "Man hat nicht gemerkt, dass er jünger war", erzählt Prießner. "Er war damals schon sehr kopfballstark und körperlich stabil."
Extraschichten im Kraftraum
Füllkrug fiel also bereits in der Jugend durch seine Physis und seine Wucht auf. Prießners große Stärke war dagegen immer die Schnelligkeit. Insgesamt 32 Spiele bestritt der Stürmer für Werder in der U19-Bundesliga, erzielte dabei elf Tore und bereitete sieben Treffer vor. In 17 Partien standen Füllkrug und Prießner gemeinsam auf dem Rasen. Der heutige Bundesliga-Profi sei abseits des Platzes ein lockerer Typ gewesen, erinnert sich Prießner. "Er war immer für einen Spruch gut." In Sachen Fußball trieb Niclas Füllkrug damals allerdings schon unbändiger Ehrgeiz an. "Nach dem Training hat er Extraschichten geschoben, war oft im Kraftraum", sagt Prießner.
Der Delmenhorster gibt dagegen offen zu, dass es ihm damals manchmal an der richtigen Einstellung gefehlt habe. Füllkrug war im Alter von 13 Jahren von den Sportfreunden Ricklingen aus Hannover ins Werder-Internat gewechselt. Prießner wohnte während seiner Zeit bei den Grün-Weißen weiterhin im nahe gelegenen Delmenhorst. Dort warteten viele Ablenkungen. "Falsche Freunde" habe er gehabt, erzählte Prießner einmal. Dazu ging er gerne mal feiern, auch wenn am nächsten Tag Termine bei Werder anstanden.
Kein Platz im U23-Team
Riesengroß war der Leistungsunterschied zwischen Prießner und Füllkrug damals nicht. Zum Vergleich: Der heutige WM-Held kam in 23 Spielen in der U19-Bundesliga auf 13 Tore und sechs Torvorlagen. Füllkrug durfte in Werders U23-Team aufrücken, das damals in der dritten Liga spielt. Prießner bekam dort keinen Platz angeboten und wechselte im Sommer 2011 zum VfB Oldenburg. Allerdings führte auch Füllkrugs Karriereweg nicht direkt nach oben. Er machte zwar seine ersten Bundesliga-Spiele für Werder, wurde dann aber an Greuther Fürth ausgeliehen und im Jahr 2014 an den 1. FC Nürnberg verkauft. Nach einer weiteren Station bei Hannover 96 wechselte Füllkrug 2019 zurück nach Bremen.

Marco Prießner (Mitte) stürmt seit Saisonbeginn für den Ahlhorner SV. Bereits 30 Saisontore erzielte er für den Kreisligisten.
Sein erstes Pflichtspiel nach der Werder-Rückkehr bestritt er in der ersten DFB-Pokal-Runde gegen den SV Atlas Delmenhorst mit Marco Prießner. "Vor dem Spiel haben wir uns gesehen. Er hat mich gleich erkannt und begrüßt", erzählt Prießner. In seiner Zeit beim SV Atlas gewann der Delmenhorster den Niedersachsenpokal und schaffte den Regionalliga-Aufstieg. Inzwischen lässt es der 30-Jährige fußballerisch ruhiger angehen. Nach einem Jahr beim SV Tur Abdin in der Bezirksliga ging er zum Ahlhorner SV, dem aktuellen Tabellensechsten der Kreisliga.
30 Tore in der Kreisliga
"Eigentlich wollte ich ganz mit dem Fußballspielen aufhören", sagt Prießner. Er wird bald zum ersten Mal Vater und arbeitet als Fachkraft für Lagerlogistik. "Da fehlt die Zeit, jede Woche mehrmals zu trainieren." Beim Ahlhorner SV könne er nun die Trainingszeiten mit seinen Arbeitszeiten vereinbaren. Prießner ist also nicht immer dabei, wenn das Team trainiert, führt aber trotzdem mit 30 Toren die Kreisliga-Torschützenliste an. "Würde ich mehr trainieren, könnte ich sicher noch mehr Tore schießen", sagt er. "Aber es geht jetzt nur noch um den Spaß, und den habe ich in Ahlhorn."
Spaß hat Niclas Füllkrug aktuell ganz offensichtlich auch bei der WM. Marco Prießner sieht seinem früheren Sturmpartner gerne dabei dazu und betont mit Blick auf das entscheidende Gruppenspiel der deutschen Elf an diesem Donnerstag (20 Uhr) gegen Costa Rica: "Niclas sollte unbedingt von Anfang an spielen, er hätte schon gegen Japan in der Startelf stehen müssen. Mit ihm hat Deutschland einen richtigen Stürmer vorne drin, auf den man auch mal Flanken schlagen kann. Ich hoffe sehr, dass das Team weiterkommt."