Franca Reitzenstein kann sich noch gut an ihren Berufseinstieg erinnern: Mit 25 Jahren hatte sie zwei Staatsexamen und war Volljuristin. „Als ich das erste Mal in eine Runde gekommen bin, in der man mich nicht kannte, wurde ich für die Sekretärin gehalten, die den Kaffee bringt.“ Vorurteile und klischeebehaftete Rollenbilder – vor allem in von Männern dominierten Bereichen sieht Reitzenstein sich und andere Frauen damit konfrontiert. „Junge Frauen mit Hochschulabschluss werden in Männerrunden oft unterschätzt.“ Reitzenstein hat den Weg an die Spitze trotzdem geschafft. Die 46-Jährige ist die geschäftsführende Gesellschafterin der Kreativagentur Neusta Communications.
Damit ist Reitzenstein eine von wenigen: Nur jede fünfte Führungskraft in Bremen ist eine Frau und das auch in Branchen, in denen es viele Frauen gibt. Zum Beispiel in der Medizin: 60 Prozent der Studierenden sind weiblich – doch die Quote der Chefärztinnen liegt in Bremen bei unter fünf Prozent. Von 100 Chefarztposten sind vier mit Frauen besetzt. Das ergab eine Anfrage der Zentralstelle für die Verwirklichung der Gleichstellung der Frau (ZGF). Grund für diese Kluft sei oftmals das Umfeld, in dem Frauen arbeiteten, sagt Landesfrauenbeauftragte Bettina Wilhelm. „Wenn mehr Frauen Führungspositionen erreichen sollen, müssen wir die Arbeitsbedingungen und die Unternehmenskultur ändern.“
Dauerbrenner Kinderbetreuung
Reitzenstein ist Mutter einer elfjährigen Tochter und alleinerziehend. „Das Thema Betreuung ist seit der Geburt ein Dauerbrenner.“ Krippe, Kindergarten, Schule. Nach Reitzensteins Auffassung gibt es keine Kinderbetreuung, die sich verlässlich mit der Arbeitswelt verbinden lässt. „Das muss man organisiert bekommen, bis die Kinder alt genug sind, um alleine zu bleiben.“ Als Unternehmerin sieht sich Reitzenstein in der glücklichen Situation, ihren Alltag selbst organisieren zu können. „Als Angestellte stelle ich mir das schwieriger vor.“ Vereinbarkeit von Familie und Beruf, eine Aufgabe, die Reitzenstein alleine bestreitet – so wie jede dritte Familie in Bremen nur ein Elternteil hat. Über 90 Prozent der Alleinerziehenden: weiblich.

Franca Reitzenstein hat als eine von wenigen Frauen den Weg an die Unternehmensspitze geschafft.
Doch Franca Reitzenstein glaubt, dass auch in Familien mit zwei Elternteilen Frauen mehr Verantwortung für die Familie übernehmen. Sie habe öfter als ihre männlichen Kollegen und Kunden Meetings verlassen müssen, weil Kita oder Schule wegen ihrer Tochter angerufen hätten. „Frauen haben andere Prioritäten. Ich als Alleinerziehende sowieso, aber auch mit beiden Eltern. Ich merke, dass es immer noch Familien gibt, in denen Frauen mehr Last tragen.“
87 Minuten. So viel mehr unbezahlte Sorgearbeit leisten Frauen am Tag als Männer. „Männer können häufig Karriere machen, weil Frauen ihnen den Rücken freihalten“, sagt Bettina Wilhelm. Frauen fehle schlichtweg die Zeit dafür, sich ihrem Beruf zu widmen. Wenn man gut verdiene, könne man sich Unterstützung einkaufen – aber das könnten sich die wenigsten leisten.
Reitzenstein glaubt, dass es schwierig wird, diese Strukturen aufzubrechen, wenn die viel zitierten „alten weißen Männer“, weiterhin allein in der Führungsetage sitzen. Unter ihnen dominiere das Weltbild "Mann im Beruf, Frau in der Familie". „Für junge Frauen, die sich etwas anderes vorstellen und beruflich noch viel vorhaben, wird das schwierig", sagt die Unternehmerin. "Auch viele junge Männer wünschen sich ein anderes Modell, mit dem sich Beruf und Familie besser vereinbaren ließen", sagt Landesfrauenbeauftragte Wilhelm. "Wir haben eine veraltete Denke, die stark von einer Präsenzkultur geprägt ist. Es wird davon ausgegangen, dass die Menschen, die zeitlich viel verfügbar sind, auch höhere Leistung bringen."
257 Jahre bis zur wirtschaftlichen Gleichberechtigung
Führt ein Generationswechsel zu weniger Ungleichheit zwischen Männern und Frauen? Nein, sagt der Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums. Nach dessen Berechnungen dauert es bei derzeitigem Tempo weltweit noch 257 Jahre, bis Frauen wirtschaftlich gleichberechtigt sind.
Ein Lösungsansatz ist für Bettina Wilhelm die Frauenquote. Diese gibt es bisher nur bei Neubesetzungen in Aufsichtsräten. „Niemand will als Quotenfrau tituliert werden, aber die Quote wirkt.“ Dass gemischt besetzte Teams noch immer keine Selbstverständlichkeit sind, kann Reitzenstein nicht verstehen: „Für erfolgreiche Projekte braucht man immer den Blickwinkel von Männern und Frauen.“ Ihr Team setzt sich aus einem Drittel Männern und zwei Drittel Frauen zusammen. Auch auf die Altersstruktur achtet Reitzenstein: Ihre Mitarbeitenden sind zwischen Mitte 20 und Mitte 50.
Natürlich gebe es auch Fortschritte in der Gleichberechtigung, sagt Bettina Wilhelm. Dies gelte besonders im Bereich Bildung: Inzwischen fingen mehr Frauen als Männer ein Studium an, und machten auch die besseren Abschlüsse. „Aber je höher es auf der Karriereleiter geht, desto mehr bleiben Frauen auf der Strecke.“